Im eigenen Schatten
wurden. In Sachen organisierter Kriminalität dienten Gesetzgebung, Ermittlungstechniken, Analysemethoden und die Schlagkraft der Sicherheitskräfte auch den Kollegen anderer europäischer Staaten zum Vorbild. Bei weitem nicht überall galten ähnliche Standards, vor allem dort nicht, wo Bevölkerung und Politiker das eigene Land trotz aller Globalisierung des Verbrechens für unbeteiligt hielten. Diese Borniertheit nahm zu, je weiter man nach Norden kam. Dabei genügte es, den Finanzflüssen zu folgen: Warum sollten ausgerechnet die wichtigsten Märkte keine maßgebliche Rolle bei der Steuerung der gigantischen Renditen spielen? Um die Zusammenhänge zu verstehen, galt es als Erstes den Finanzflüssen zu folgen. Die organisierte Kriminalität war ein internationaler Großkonzern mit einflussreichen Lobbyisten, und wo Ermittlungsbehörden weisungsgebunden von der Politik waren, kam schlicht und ergreifend weniger ans Tageslicht.
Die Spezialisten in Ronchi unterstanden Ermittlungsrichter Battista Malannino, einem Mann von Kleiderschrankformat mit gelblichem Schnauzbart, dessen Anzug im Glencheck-Muster am Bauch spannte. Seine Sondervollmachten vermieden Kompetenzkonflikte zwischen den beteiligten Behörden. Im Moment aber wollte sich ohnehin niemand hervortun. Bei dem nun offiziell festgestellten Wert des geraubten Goldes von über einundsechzig Millionen Euro riss sich niemand darum, die Verantwortung allein zu tragen. Täglich in den Medien zitiert zu werden, unablässig nichtssagende Seifenblasen in Fernsehinterviews abgeben zu müssen sowie ständig zu idiotischen Talkshows eingeladen zu werden, hätten zwar Gesicht und Namen desjenigen bekanntgemacht, doch wenn die Täter nicht binnen weniger Tage dingfest gemacht wurden, schlug dies rasch ins Negative um.
Commissario Proteo Laurenti hatte mit Erleichterung zur Kenntnis genommen, dass sein Name bei der Konferenz der leitenden Beamten, zu der er am frühen Morgen gerade noch rechtzeitig nach dem Frühstück mit Gundolf Moser eingetroffen war, von seiner Chefin nicht genannt wurde. Sie hielt ihn offenbar für unkompatibel in der Zusammenarbeit mit den Leuten aus dem Ministerium. Außerdem hatte er den Mord an einer wichtigen Persönlichkeit aufzuklären, auch wenn Tote keine Eile hatten. Zudem brachte die Polizeipräsidentin Spechtenhauser noch nicht in Zusammenhang mit dem Raubgold, und der Commissario war weit davon entfernt, seine Vorgesetzte darauf aufmerksam zu machen. Doch musste er einen seiner Mitarbeiter, Inspektor Gilo Battinelli, an die Sonderkommission ausleihen.
Ab Freitagnachmittag wurden die Passagierlisten der Flüge, die nach der Tat Triest/Ronchi dei Legionari verlassen hatten, bis ins letzte Detail durchleuchtet. Am Samstagmorgen trafen nach und nach die vollständigen Bänder der Videoüberwachung des Flughafens ein sowie die Aufzeichnungen des Safety-Tutors, der Streckenabschnittskontrollen auf der Autobahn, und der Webcams aus den umliegenden Gemeinden. Die Beamten der Arbeitsgruppen harrten auf unbequemen Stühlen vor den Monitoren aus, um sie auszuwerten. Nur die Daten der privaten Telefongesellschaften ließen noch auf sich warten, trotz der Verfügung des obersten Ermittlungsrichters; wenn kein Profit winkte, handelte die Privatwirtschaft meist langsamer als staatliche Einrichtungen.
Elf Maschinen hatten innerhalb des zuerst untersuchten Zeitfensters abgehoben. Zwischen zehn und vierzehn Uhr gingen die Flüge nach Catania, Palermo, Neapel, Cagliari, Valencia, München, London, Birmingham, Rom, Genua und Mailand. Emsig gaben Beamte die Namen der Passagierlisten in die Datenbanken ein, und für lange Momente war aus ihrer Ecke lediglich das Klappern der Tastaturen und verhaltenes Gemurmel zu vernehmen, während am anderen Ende des Hangars sechs nebeneinandergestellte Biertische als Konferenztisch dienten, um den sich der Führungsstab versammelt hatte und frühere Erfahrungen zusammentrug. Große Banküberfälle und spektakuläre Einbrüche, Raubzüge auf Werttransporte hatten seit Beginn der Krise stark zugenommen, doch einfache Bürger, die unter der galoppierenden Finanzkrise litten, konnten in diesem Fall ausgeschlossen werden. Sie stahlen höchstens etwas aus Nachbars Garten, Klamotten in Outlet-Villages oder Lebensmittel in Supermärkten, um ihre Familien durchzubringen, versuchten sich an kleineren Versicherungsbetrügen oder hielten sich mit Schwarzarbeit über Wasser, derer sich manchmal auch Polizisten bedienten. Für größere
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