Im eigenen Schatten
Waffe unter den Blicken des ihm unbekannten Beamten in einen Korb, bevor er die Sicherheitsschleuse passierte und sie anschließend wieder einsteckte. Ein dummes Procedere, aber so lauteten nun einmal die Regeln.
Er kannte den Weg auswendig, steuerte um die kolossalen Marmorsäulen herum, auf denen die ganze Last des wuchtigen Gebäudes zu liegen schien, und nahm die breite Treppe, ohne erst auf den engen Aufzug zu warten, der vielleicht gekommen wäre, vielleicht aber auch nicht.
Dottor Cosimo Lorusso war bei weitem noch keine vierzig Jahre alt und klagte ständig über die schier unmenschliche Arbeitsbelastung, doch aus den Regalen seines engen Büros schillerten die grellgelben Rücken seiner drei Romane; auf den ersten Blick waren es mindestens fünf Exemplare jedes Titels. Ob er sie überführten Tätern schenkte, damit sie sich die Zeit im Gefängnis verkürzen konnten? Ihre strenge Anordnung widersprach dem Chaos auf dem Schreibtisch, die Aktendeckel stapelten sich beträchtlich und ließen keinen freien Platz, an dem er sie zum Studium hätte öffnen können. Der Bildschirm auf dem Nebentisch war schwarz, als Proteo Laurenti kurz vor Mittag eintrat und sich reckte, um hinter den Bergen an Unterlagen endlich das wirre Haarbüschel auf dem Kopf des Mannes zu entdecken, der zu seinem Bedauern diesen Fall in der Hand hatte. Lorusso wäre Laurenti wegen seiner Unsicherheit nicht unbedingt unsympathisch gewesen. Hätte er ihn auf einer Party oder bei einem Abendessen mit Freunden kennengelernt, wäre er ihm sicher mit freundlichem Ratschlag begegnet. Das teigige, bleiche Gesicht unter dem zerzausten dunkelblonden Schopf wollte nicht so recht zu seinen fahrigen und unkoordinierten Gesten passen. Proteo Laurenti vermutete die Ursache dieser auffälligen Motorik in der Überlastung, der Dottor Lorusso ausgesetzt war. Er stammte aus Gallipoli im Süden Apuliens und stand am Beginn seiner Karriere, deren Möglichkeiten er vermutlich nie nützen, sondern baldmöglichst einen Job anstreben würde, in dem es keinen Bereitschaftsdienst gab. Dabei sicherte die Verfassung die absolute Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft, die, falls Ermittlungen politisch unbequem wurden, von keinem Minister, von keiner Regierung ausgehebelt werden konnte; erst kürzlich hatte die amerikanische Botschaft in Rom verbittert gegen diese Unantastbarkeit interveniert, weil sie die Interessen der USA beeinträchtigten und Ermittlungen gegen gesetzeswidrige Operationen der CIA in Italien politisch nicht verhindert werden konnten. Dottor Cosimo Lorusso jedoch war kein couragierter Mann, der eine solche Herausforderung nutzen wollte, und es fehlte ihm an Erfahrung.
»Ich sollte an diesem Wochenende eine lange Wanderung auf dem Ritten machen, Commissario«, sagte er resigniert. »Ein Bergzug oberhalb von Bozen, wo es einen wunderschönen Höhenweg gibt, den man von dem Wellnesshotel gehen kann, das meine Frau so liebt. Und Sie halten mich in Triest fest.«
»Das ist nicht meine Schuld, Staatsanwalt.« Sein Gegenüber war eben doch nur ein arriviertes Söhnchen, das gerade die weite Welt entdeckte und sich einbildete, das definitive Glück gefunden zu haben, nur weil er die Rechnungen dieser Beautyfarm mit der goldenen Kreditkarte begleichen durfte. Laurenti zog den Stuhl an die Seite des Schreibtischs. Er wollte dem Staatsanwalt in die Augen schauen können, ohne um die Aktenstapel herumlinsen zu müssen. »Die Auswertungen der Kriminaltechnik verlangen schnelles Handeln. Außerdem sind derzeit die nächsten Angehörigen Spechtenhausers in der Gegend versammelt, und ich könnte mit jedem Einzelnen von ihnen sprechen, ohne große Reisekosten zu verursachen. Die Sachlage hat sich verändert. Sprengstoff, ein Mordfall. C4, Dottor Lorusso.«
»C4?« Der Mann nahm die Brille ab und reinigte die Gläser mit dem Hemdzipfel.
»Ein militärischer Sprengstoff, sehr handhabungssicher. Dieses Zeug wird von Profis verwendet und auch von Terroristen. Beim Attentat von Peteano zum Beispiel, 1972 …«
Drei Carabinieri hatten damals bei dem von ferngesteuerten Rechtsextremen bis ins Detail geplanten Attentat ihr Leben verloren, und auf dem Karst bei Aurisina war in einem der Bunker der Nazibesatzung ein riesiges Waffendepot gefunden worden, das vor nicht allzu langer Zeit angelegt worden war. Zwei Tage später das Gleiche in einer zwei Kilometer entfernten Grotte. Weitere Verstecke fanden sich fast zeitgleich im Friaul auf Friedhöfen bei Udine, in San Vito
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