Im eigenen Schatten
Freitag auszudrucken. Zum Saisonauftakt waren allerdings bei weitem nicht alle viereinhalbtausend Gästebetten belegt. Mit einem Rotstift in der Hand blätterte die Kommissarin die Liste durch und markierte als Erstes die Namen der etwa fünfzig Touristen, die aus Südtirol gekommen waren, oder aller Italiener mit Geburtsort oder Wohnsitz südlich von Rom. Einem ihrer Männer übertrug sie die Aufgabe, deren Personalien genauer zu überprüfen. Besonderes Augenmerk habe er dabei auf das Strafregister zu richten, und vor allem sollte er sich mit der Auswertung beeilen: Sonntag war für viele der Abreisetag.
Um halb zehn meldete Xenia sich an der Rezeption des Hotelturms, in dem Magdalena Spechtenhauser den vorletzten Stock bewohnte und das ihr Vater ihr zum dreißigsten Geburtstag im Zuge einer ersten Erbteilung gekauft hatte. Gertraud hatte dafür die Villa über der idyllischen Bucht von Duino erhalten sowie mit Spechtenhausers Ableben sein Anwesen auf dem Karst und als Wertausgleich noch einen luxuriösen Katamaran von fünfundzwanzig Metern Länge, den betuchte Segler in der Hochsaison für achtzehntausend Euro die Woche chartern konnten. Auch sein Kind aus erster Ehe hatte der großzügige Mann nicht vergessen. Das Südtiroler Weingut zwischen Meran und Eppan mitsamt dem Herrenhaus und der hypermodernen Kellereianlage hatte er neben anderen Wertanlagen auf Nikolaus übertragen, wobei er sich zu Lebzeiten den Nießbrauch ausbedungen und Donna Rita als Vermögensverwalterin ihres Sohnes eingesetzt hatte. Die Gefahr, dass Nick das Anwesen aus Trotz oder Disziplinlosigkeit herabwirtschaftete und dann verschleuderte, war zu groß gewesen. Rita allerdings war damit nicht zufrieden gewesen und hatte nachdrücklich auf eine Ausgleichszahlung von siebzehn Millionen bestanden, der er erst nach zähen Verhandlungen nachgegeben hatte.
Xenia ließ sich vom Concierge mit Magda verbinden und bat um ein kurzes informelles Gespräch. Der Mann staunte, als er sie zum Aufzug geleiten wollte und die Kommissarin erklärte, sie würde die Treppe nehmen.
Xenia atmete tief durch, bevor sie die Tür öffnete. Mit äußerster Disziplin würde sie die Platzangst in diesem engen Geläuf bezwingen können. Im zweiten Geschoss zählte sie, um sich abzulenken, ihre Schritte mit und multiplizierte anschließend mit den Stockwerken: Vierhundertzwanzig Treppenstufen müsste sie bezwingen, bevor sie an Magdas Tür klingeln konnte, in deren riesiger Wohnung der Lift direkt im Foyer hielt. Im ganzen Städtchen genoss man nur vom Restaurant auf der Dachterrasse einen noch etwas besseren Rundumblick. Xenia dosierte ihre Kraft, dennoch spürte sie bald die Oberschenkelmuskulatur. Ein ungeübter Bewegungsablauf, obgleich sie die hundert Kniebeugen zur Aufwärmung während ihres wöchentlichen Kampfsporttrainings gemeinhin so mühelos abdrückte wie die gleiche Anzahl an Liegestützen.
Und die grauen Wände des Treppenhauses, das in einem Hotel nur für den Notfall diente und wo die schweren Brandschutztüren die Nummern der Stockwerke trugen, machten den Aufstieg noch einförmiger. Hatte sie nicht erst am Freitag zu Laurenti gesagt, sie würde Magdalena Spechtenhauser in Zukunft nur noch im Büro aufsuchen, in dem umgebauten Bauernhof draußen vor den Toren des Städtchens? Als sie die drittletzte Etage hinter sich hatte, hörte Xenia, wie weiter oben die Stahltür ins Schloss fiel, sowie Schritte, die ihr entgegenkamen. Kurz blickte sie ins Gesicht eines rothaarigen Mannes mit einem Feuermal. Er verschwand kurz hinter ihr auf dem Flur. Einprägsamer Typ, dachte Xenia und nahm die letzten Stufen.
»Alle Achtung«, sagte Magda, als sie ihr die Tür öffnete. »Du kannst es nicht sein lassen. Hast du wenigstens die Zeit gemessen?« Sie führte die Polizistin auf den Balkon, nahm zwei Espressotassen vom Tisch und kam kurz darauf mit einer Karaffe Mineralwasser zurück.
»Du durchlebst eine schwere Zeit, Magda.« Xenia sprach mit sanfter Stimme. »Ich wollte dir noch einmal meine Anteilnahme ausdrücken und dir sagen, dass du dich jederzeit an mich wenden kannst, solltest du Hilfe brauchen oder über die Sache reden wollen, ohne gleich offiziell mit den zuständigen Ermittlern zu sprechen.«
»Das ist sehr freundlich, Xenia. Die Arbeit hilft mir sehr. Schlimmer wäre es, wenn die Hotelbuchungen ausblieben und die Ablenkung fehlte. Die Saison hat Gott sei Dank gut angefangen. Aber eine Frage stellt sich: Weshalb haben deine Triestiner Kollegen
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