Im eigenen Schatten
wichtigsten Unterlagen ihres Vaters daraus entnommen und auch den dicken Stapel Banknoten in eine Tüte gesteckt, den sie bis heute nicht gezählt hatten.
»Ich hoffe, du hast den Durchsuchungsbefehl noch.« Galimberti ließ nicht locker. »Ich kümmere mich gleich darum, sobald ich ihn in Händen habe. Diese Inspektorin hat ihre Kompetenz eindeutig überschritten, du hattest das Recht, dabei zu sein. Die Unterlagen müssen sie wieder rausrücken, sonst bekommen sie mächtigen Ärger.«
»Selbstverständlich, aber mach dir bitte keine Mühe, Ernesto. Ich werde selbst das Nötige veranlassen.« Trudi schenkte ihm zum Ausgleich für die Abfuhr einen schmachtenden Blick. »Sie haben nichts Wichtiges mitgenommen. Die Geschäfte sind nicht beeinträchtigt. Papi war in diesen Dingen sehr penibel. Die Polizisten tun nur ihre Pflicht und vielleicht hilft es bei der Ermittlung des Mörders.«
Donna Rita war dem Gespräch ungerührt gefolgt. Auf ihren Wink lehnte sich Galimberti wieder im Stuhl zurück.
Nick wartete ungeduldig darauf, dass der Kellner die zweite Flasche Wein brachte, während Moser sich an ihn wandte.
»Keine Zwietracht, Nick. Concordia e Serenità. Uneinigkeit kann es nur mit mir geben. Auch wenn sich unsere Wege vor Jahren getrennt haben, den Erfolg haben euer Vater und ich stets gemeinsam erreicht. Und ich bin ihm schuldig, dass unter euch die Dinge so geregelt werden, wie er es sich vorgestellt hat und das Gesetz der Gleichheit es verlangt. Emotions- und neidlos. Donna Rita sieht die Dinge genauso, nicht wahr?«
»Hart, aber ehrlich.« Ihr Lächeln war so sonnig wie der Tag.
In den meisten Häusern war es die Aufgabe der Nachtportiers, noch vor Mitternacht die Meldelisten der Hotelgäste an das Ufficio di pubblica sicurezza des zuständigen Polizeikommissariats weiterzuleiten. Nicht alle Beherbergungsbetriebe verfügten jedoch über ein EDV-Programm, das die persönlichen Angaben des Gasts bei der Anreise festhielt und am Ende des Tages elektronisch an die Behörden übermittelte: Geburtsdatum und -ort, Staatsangehörigkeit und Dokumentennummer, Heimadresse und Anreisetag sowie dieselben Informationen zu Begleitpersonen. Die Daten wurden eingelesen und mit der zentralen Database der Behörden abgeglichen, welche die faulen Eier automatisch ausspuckte. Pensionen, Vermieter von Ferienwohnungen und manch kleineres Hotel übermittelten hingegen die Angaben noch in Papierform, was in der Hochsaison zu Verzögerungen bei der Erfassung führte, wenn der zuständige Beamte morgens den verstopften Briefkasten leerte und die Umschläge mit den Meldeformularen herauszog. Der bürokratische Aufwand hatte durchaus seine Gründe: Hoteliers wurden vor bereits bekannten Zechprellern geschützt, und die Verdunkelungsmöglichkeiten für einschlägig gesuchte Personen waren drastisch reduziert – falls sie dumm genug waren, mit ihren echten Dokumenten einzuchecken.
Der Sonntagmorgen in Grado, dem im zweiten Jahrhundert vor Christus als Seehafen für Aquileia begründeten Städtchen, verlief für die Beamten der Polizia di Stato normalerweise ruhig. Die Urlauber schliefen aus oder gönnten sich ein längeres Frühstück, bevor sie zu den Stränden strebten. Nur Hundebesitzer führten in der Früh ihre besten Freunde in der leeren Fußgängerzone oder auf der Uferpromenade aus, auf der Jogger mit stierem Blick und den Stöpseln des iPods im Ohr wie in Trance ihre Runden zogen und versuchten, ihren Alltagsfrust durch die Erhöhung des Endorphinspiegels zu lindern. Abgesehen von den Zeitungskiosken und der Buchhandlung, die auch Tabkwaren verkaufte, öffneten die Geschäfte in dem kleinen Badeort nicht vor zehn Uhr, und auch viele Barbesitzer gönnten sich am Tag des Herrn eine Stunde länger Schlaf.
Im neu eingerichteten Kommissariat auf der Isola della Schiusa saßen an diesem Morgen drei Polizisten, deren Schicht um acht Uhr begonnen hatte, über den Stapeln der Meldeformulare. Die Eingabe der Namen und Wohnorte der Gäste aus dem deutschsprachigen Ausland mit Umlauten und »ß« verlangte Konzentration. Um drei viertel neun spuckte der Computer schließlich eine kurze Liste mit den Namen aus, die eine weitere Überprüfung verlangten; meist waren Eingabefehler der Grund dafür, seltener die Hotelgäste selbst, bei denen wenig später zwei Beamte vorsprechen sollten.
Diesmal war Kommissarin Zannier bei der Durchsicht der Liste unzufrieden, weil sie keine Fehler fand, und gab Anweisung, den kompletten File seit
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