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Im eigenen Schatten

Im eigenen Schatten

Titel: Im eigenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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die große Flut. So behauptet es die Geschichtsschreibung der alten Griechen. Es scheint, als hätten schon sie die Sintflut gekannt. Deukalion und Pyrrha standen vor dem Rätsel, wie sie die Erde wieder bevölkern könnten, und befragten ein Orakel, das verkündete, Deukalion solle die Knochen seiner Mutter über seine Schulter werfen.«
    »Wozu also brauchte die Menschheit noch Sigmund Freud?«, fragte Xenia. »Nichts Neues unter dem Himmel, außer dass wir Menschen noch immer nicht begriffen haben, dass wir die einzigen Kreaturen der Schöpfung sind, deren kulturelles Gedächtnis bereits nach der dritten Generation einer Amnesie zum Opfer fällt. Lass mich noch mal ziehen.«
    Von einem der verstreut angesiedelten Gehöfte auf der Landzunge der Lagune drang wütendes Gebell zu ihnen herüber. Auf der schmalen Straße dort bewegten sich die Lichter von zwei Fahrzeugen, welche die Nachtruhe von Bauer und Hund störten.
    »Ovid war ein listiger Spieler, mein Schatz. Er packte seine bitterböse Kritik am Imperator in Metaphern, um sich der Verfolgung zu entziehen. Dennoch wurde er verbannt.«
    Xenia richtete sich auf und nahm den letzten Schluck Wein aus dem Becher, den sie an die Bordwand zurückstellte. Ihr blondes Haar und ihre helle Haut kontrastierten mit dem dunklen Teint Zenos. Langsam glitten ihre Küsse von seinem Mund über Hals und Brust zum Bauch hinunter.
    Sie war spät nach Hause gekommen, doch hatte sie zuvor angerufen und Zeno gebeten, Wein kalt zu stellen und eine Kleinigkeit zu essen vorzubereiten, die sie auf dem Boot zu sich nehmen könnten. Sie brauchte Weite, die nur das Meer bieten konnte, und selbst das Bett unter der alten Linde hatte Nachteile: In der Stille der Nacht hörten die Nachbarn jeden lauten Ton.
    Am späten Nachmittag hatte sie einen heftigen Zusammenprall mit dem Polizeipräsidenten in Gorizia gehabt, weil sie sich am Freitag seiner Meinung nach geringschätzig über die Anweisungen geäußert hatte, wo sie ihren Kontrollposten einrichten sollte. Und Xenia war bei ihrer Antwort um kein Wort verlegen gewesen. Ein eitler Gockel, der nicht damit zurechtkam, dass ausgerechnet sie vom Ministerium über seinen Kopf hinweg zur Leiterin der neu eingerichteten Dienststelle in Grado ernannt worden war. Den Job hatte er vermutlich längst einem willfährigen Untertanen versprochen.
    Zeno erwartete sie bereits in der Tür und löschte das Licht im Haus, sobald er den Motor ihres Scooters vernahm. Mit einer schweren Kühltasche kam er auf sie zu, reichte Xenia die Schlüssel des Bootes und wartete, bis sie sich eine Zigarette gedreht und angesteckt hatte. Schweigend und Hand in Hand gingen sie durch den Pinienhain und über den Strand und zum Anleger hinüber. Egal was er gesagt hätte, Zeno wusste, dass ihre ersten Worte wie ein Hagelschauer über ihm niedergegangen wären. In schlechten Momenten nahm er es persönlich, dann folgten Streit und dicke Luft.
    Nachdem sie den Anker geworfen hatten, beschwichtigten das erfrischende Bad und ihre Zärtlichkeiten, der Tintenfischsalat und das Carpaccio der Goldbrasse und der Weißwein ihr Gemüt. Positionslichter anderer Boote waren weit und breit keine auszumachen. Montagnacht fuhren höchstens Fischer hinaus, und bis auf den engen, ausgehobenen Kanal, der in die Flussmündung führte, waren die Gewässer hier viel zu flach für ihre Kutter. Sie standen weiter draußen und bildeten eine unregelmäßige Lichterkette, die sich über den ganzen Golf zog. Von Muggia und Koper im Südosten bis herüber Richtung Grado warfen die starken Scheinwerfer an Bord der Lampare kalte Lichtkegel über die Wasseroberfläche, die sich erst in weiter Ferne wie weiße Tusche in der Dunkelheit verliefen.
    Zeno entkorkte die zweite Flasche und Xenia drehte sich die nächste Zigarette. Ihr Blick schweifte über das Meer. Aus der Ferne näherte sich stetig das Geräusch eines Schiffsdiesels, doch konnten sie keine Positionslichter entdecken. Es schien, als stampfte der Kahn in gedrosselter Fahrt und mit ausgeschalteten Lampen zwei, drei Seemeilen südlich vorbei, mit Kurs auf einen der Sporthäfen bei Monfalcone. Doch dann blitzten an Land drei Mal die Scheinwerfer eines Fahrzeugs auf und wurden sofort von einem sehr kurzen Lichtblitz des Kutters erwidert, der von der Wasseroberfläche reflektiert wurde.
    »Deinen Becher, Liebe«, sagte Zeno.
    »Pssst!« Xenia machte eine barsche Handbewegung. »Da geht etwas nicht mit rechten Dingen zu.«
    »Du bist nicht im Dienst,

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