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Im eigenen Schatten

Im eigenen Schatten

Titel: Im eigenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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war eine der wenigen, in der zugleich Männer und Frauen einsaßen. Zwar begegneten sie sich nie im Alltagstrott, doch Blickkontakt war möglich, und auch durch Rufe konnten sie sich verständigen. Einem der Vollzugsbeamten war, während des Hofgangs der Frauen, ein merkwürdiger Vorgang aufgefallen. Als eine der Inhaftierten mit einem vorgetäuschten Schwächeanfall die Aufmerksamkeit des Wachpersonals auf sich zog, warf einer der männlichen Gefangenen einen zusammengeknüllten Gegenstand vom Fenster seiner Zelle auf den Hof, der hastig von einer anderen Frau eingesammelt wurde.
    Der Beamte konfiszierte ihn. Es war einer der Latexhandschuhe, die in der Gefängnisküche oder der Bäckerei verwendeten wurden – oder auch von Kriminaltechnikern bei der Spurensicherung am Tatort. Leer, kein Zettelchen, kein Kassiber, keine Gegenstände, nur ein paar Tropfen klebriger Flüssigkeit fand sich im Daumen. Der Beamte warf ihn in den Mülleimer. Beim zweiten Mal aber brachte er das Ding umgehend seinem Vorgesetzten, der es sogleich an die Gerichtsmedizin zur Analyse weiterleitete. Einen Tag später lag der Befund vor: Sperma. War es möglich, dass eine Gefangene versuchte, damit schwanger zu werden, um sich bessere Haftbedingungen zu verschaffen? Hausarrest statt Gefängnis? Realität oder kollektives Delirium?
    Laurenti klappte die Zeitung zu, als die Anzeigen der Goldaufkäufer begannen, die mit Höchstpreisen für Schmuck, Zahngold, Silberbesteck, Medaillen, Uhren lockten und auch gesamte Nachlässe aufkauften. Natürlich diskret und gegen Barzahlung.
     
    Allmählich erwachte die Familie. Livia tapste barfüßig auf die Terrasse und küsste ihn auf die Wangen, bevor sie ein Päckchen aus goldenem Geschenkpapier auf den Teller ihrer Mutter legte.
    »Ein Parfum, das Mama neulich lange angesehen und doch nicht gekauft hat«, sagte seine älteste Tochter noch schlaftrunken. »Was schenkst du ihr?«
    »Ich dachte an eine Reise.«
    »Wow, und wohin?«
    »Paris, vielleicht. Oder Dubai, London, Lissabon, Barcelona, Madrid, Berlin. Oder Bilbao, sie wollte schon immer das Museum dort sehen. Sie hat die Wahl. Aber behalt es für dich, bitte.«
    »Heute Abend kocht Marco für sie, ich muss ihm helfen.«
    »Hat er erzählt, was?« Laurenti wusste, dass sein Sohn kaum vor der Mittagszeit aufstehen würde. Wenn er gegen dreiundzwanzig Uhr seine Kochjacke in Triests berühmtestem Restaurant ablegte, wo er im letzten Jahr seiner Ausbildung stand, traf er sich mit Freunden und machte die Bars der Stadt unsicher, die in lauen Nächten bis in die frühen Morgenstunden geöffnet hatten.
    »Er hat heute Nacht zwei schwere Taschen mit Zutaten von der Arbeit mitgebracht und im Kühlschrank verstaut«, erzählte Livia. »Aber nicht mal mir hat er etwas verraten.«
    »Ich bin gar nicht damit einverstanden, dass wieder der Junge kocht«, waren die ersten Worte der Signora Camilla, die sich lautlos genähert hatte. Kein »Guten Morgen«, kein Lächeln. »Er experimentiert zu viel. Und die böse Überraschung, als er damals den Quallensalat serviert hat, vergesse ich nie. Man könnte sich auch einen ruhigeren Lebensabend vorstellen. Warum hast du eigentlich keine Kerzen auf den Frühstückstisch gestellt, Proteo? Deine Frau hat heute Geburtstag, so einen nackten Tisch hat es bei uns an Festtagen nie gegeben.« Über den wundervollen Blumenstrauß verlor die Alte kein Wort.
    »Die Blumen sind nur für dich«, kartete Laurenti zurück. »Du hast sie wirklich verdient. Ohne dein Zutun hätte ich die Mutter deiner Enkel nie kennengelernt. Meine herzlichsten Glückwünsche, herzallerliebste Schwiegermutter, und viel Gesundheit.«
    Es blieb ihm gerade noch genug Zeit, seine Frau, die sich sichtbar verkatert am Frühstückstisch einfand, zu küssen und ihr zum Geburtstag zu gratulieren, als sein Telefon klingelte. Der erste Anruf am Montagmorgen kam wie immer von der Polizeipräsidentin, die der Meinung war, dass ihre leitenden Beamten zum Wochenbeginn an ihre Aufgaben erinnert werden mussten. Sie war so unnachgiebig wie die deutsche Kanzlerin, der sie auch vom Äußeren ähnelte, allerdings war ihr Schneider besser. Landesweit war sie eine der wenigen Frauen in diesem hohen Amt. Zum Wochenanfang begann sie ihren Dienst demonstrativ um sieben Uhr. Ihre Antrittsrede vor zwei Jahren war mit den Wörtern Ordnung, Disziplin und Fleiß gespickt gewesen; es könne schließlich nicht mit rechten Dingen zugehen, dass die Kriminalstatistik in Triest im Gegensatz

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