Im Fadenkreuz der Angst
und überlege, wie ich in die Geschichtsstunde komme, ohne von Eddy erwischt zu werden.
Irgendwie gelingt es mir.
Mr Bernstein schlägt einen Bogen von den Hexenprozessen zum Kalten Krieg: »Das war eine entsetzliche Zeit, eine Zeit, in der Unschuldige und Schuldige gleichermaßen Opfer von Hexenjagden wurden.« Er beschreibt, was für Albträume falsche Anschuldigungen auslösen konnten. Wie schrecklich es war, dass man allein aufgrund von Indizienbeweisen und anonymen Anschuldigungen, gespeist von Angst, Gerüchten und Lügen, verurteilt werden konnte.
Das bringt mich auf den Gedanken, dass es Dinge gibt, die wahr scheinen, aber nicht wahr sind. Wie Andys vorgeblich so glückliche Familie. Oder meine. Und dass es Dinge gibt, die zum Teil wahr sind, bei denen aber das, was nicht wahr ist, das Wahre ins Gegenteil verkehrt. Zum Beispiel, wie meine Eltern die Sache mit der Einsiedlerinsel sehen. Und ich muss an Dad denken. An Dinge, die ich weiß, und Dinge, die ich nicht wirklich weiß, außer in meinem Herzen.
Plötzlich wird mir schlecht. Ich melde mich. »Darf ich auf die Toilette gehen?«
Mr Bernstein nickt. Als ich den Raum verlasse, fragt Eddy, ob er auch aufs Klo darf.
»Auf keinen Fall«, sagt Mr Bernstein trocken.
Ich laufe den Flur lang bis zur Treppe am hinteren Ende der Schule. Unter der Treppe zum ersten Stock ist ein kleines Kabuff, mein Geheimversteck. Im vergangenen Jahr habe ich Dad beim Tag der offenen Tür diese Ecke gezeigt und ihm gesagt, ich würde dort mein Mittagsgebet sprechen. Es ist ein super Versteck. Viel besser als das Klo. Erst mal stinkt es nicht. Dann ist es absolut sicher. Selbst in den Pausen sieht mich da keiner. Vor allem aber gucken weder der Hausmeister noch die Lehrer rein. Das weiß ich, weil ich im letzten Frühjahr zur Probe das Papier von einem Marsriegel habe liegen lassen. Im Juni lag es immer noch an derselben Stelle.
Ich stoße die Glastür zum Treppenhaus auf und lausche, ob jemand kommt. Stille. Super. Ich sause runter und schlüpfe in mein Versteck. Ich lehne mich an die Wand, strecke die Füße aus, bis meine Zehen die Unterseite der Treppe berühren.
Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und simse Andy. Keine Antwort. Wahrscheinlich schreibt er gerade einen Test oder so was.
Macht nichts. Ich genieße den Frieden und die Stille. Niemand spioniert mir nach. Niemand greift mich von hinten an, niemand beschmeißt mich mit spucketriefenden Papierkügelchen, niemand verhöhnt mich. Ich bin unsichtbar. Ich schließe die Augen. Meine Schultern entspannen. Ich atme – langsam, immer langsamer – und drifte in die Welt hinter meinen Augenlidern, die nur mir gehört.
Ich bin in der Vergangenheit. In der Koranschule. Dad schaut lächelnd zu, wie ich vor meinem alten Lehrer Mr Neriwal knie und Verse aus dem Koran aufsage.
Und jetzt sehe ich, wie Dad mich nach Hause trägt. Da bin ich noch jünger und kurz vorm Einschlafen. Er schmiegt seine Nase an meine Wange.
Und jetzt ist es Winter. Wir sind auf der Eisbahn, die Dad für mich im Garten angelegt hat, als ich zwei war. Ich habe meine winzigen Schlittschuhe an, bin warm eingepackt in Schneeanzug, Schal und lange Unterhosen und ich halte mich an einem Küchenstuhl fest. Dad zieht den Stuhl vorsichtig über das Eis. Ich gleite mit und lache. Mom filmt alles mit der Videokamera.
Erinnere ich mich an das, was geschehen ist, oder erinnere ich mich an die Filme, die ich später sah? Egal. Ich möchte für immer dortbleiben, in der Zeit, in der Dad mich geliebt hat und wir glücklich miteinander waren.
Das Läuten zum Schulschluss weckt mich. Ich rolle mich aus meinem Kabuff und renne in den zweiten Stock – erstens, damit niemand mein Versteck entdeckt, zweitens, damit ich Mr Bernsteins Klassenraum erreiche, bevor er meine Sachen dort einschließt.
Ich begegne Mitchell. »Eddy sucht dich«, sagt er.
»Wo?«
»Keine Ahnung.«
Ich rase in Mr Bernsteins Raum. Er steht am Schrank. Ich blicke ihn nicht an, gehe einfach zu meinen Büchern. Ich hoffe, er lässt mich entkommen, aber das tut er nicht.
»Sami«, sagt er, ohne aufzugucken. »Wenn Sie das nächste Mal eine Auszeit brauchen, sagen Sie mir, dass sie krank sind, dann kann ich Ihnen einen Passierscheinausstellen. Wenn Sie einfach nur abhauen, stehe ich dumm da.«
»Tut mir leid.«
»Und Sami …« Er macht den Schrank zu und dreht sich um, einen Stapel Arbeitsblätter in der Hand. »Sa mi , wenn Sie mit jemandem reden möchten, Sie können sich
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