Im Fadenkreuz der Angst
getan und jetzt steckt er in der Scheiße und ich will die Wahrheit rauskriegen, damit ich ihm helfen kann. Er ist ein guter Mann, ein guter Vater, und ich habe ihm nur Stress gemacht. Ich wollte einmal was richtig machen. Damit er stolz auf mich ist. Ich liebe ihn. Also tu, was du tun willst. Aber sag ihm, dass er nicht schuld ist. Und meine Freunde auch nicht. Niemand sonst. Sondern ganz allein ich.«
Ich erwarte, dass sich die Finger in meinen Hals graben. Dass sie meine Luftröhre zerquetschten, dass meine Augen aus den Höhlen treten. Das letzte, was ich sehen werde, ist die alberne Elefanten-Teekanne. Super. Fantastisch. Klasse Abgang.
Aber Tariq klopft mir auf den Rücken und lässt mich los. Er geht zweimal um den Tisch herum, dann setzt er sich mir gegenüber hin. »Ich werde dir eine Geschichte erzählen«, sagt er. Dann schaut er mir in die Augen und nimmt meine Hände, als wäre ich ein kleines Kind.
»Es war einmal«, fängt Tariq an, »ein kleiner Jungein Iran. Dort fand eine Revolution statt. Die Eltern des Jungen unterstützten die Revolution, jedoch nicht das, was danach kam. Sie wurden ins Gefängnis gesperrt. Der Junge lebte bei seiner Großmutter. Sie schmuggelte ihn aus Iran raus, auf ein Schiff nach Kanada. Nach Montreal. Er wurde von Freunden der Freunde von Freunden der Familie großgezogen.«
»Die Geschichte kenne ich«, sage ich langsam.
»Einen Teil davon kennst du, einen Teil«, nickt Tariq. »Aus dem Jungen wurde ein kluger, hübscher junger Mann. Er lernte viel und war gut in der Schule. Die Freunde der Freunde seiner Familie unterstützten ihn, sodass er studieren konnte, an einer Universität, die McGill hieß. Er heiratete die älteste Tochter jener Familie, Neda. Er sagte sich, es wäre Liebe. Aber es war Pflicht.«
»Nein.« In meinem Nacken kribbelt es. »Es war Liebe.«
Tariq bringt mich mit einer ruhigen Handbewegung zum Schweigen. »Ja, später war es Liebe. Aber am Anfang war es Pflicht und Gebot. Sie lebten in einer lauten Pension, beide hatten zwei Jobs und studierten und studierten und kamen nicht voran. Und der junge Mann hatte das Gefühl, in einer Falle zu sitzen.«
Ich platze raus: »Was hat er gemacht?«
»Im letzten Studienjahr lernte er eine Assistentin kennen, die für einen seiner Professoren im Fachbereich Biologie arbeitete. Sie hieß Yasmin. Sie war aus Ägypten. Und manchmal, wenn die Frau des jungen Mannes arbeiten war, traf er sich mit Yasmin. Sie hatten dieselben Träume. Sie teilten alles miteinander.«
»Aber er blieb bei Neda«, stelle ich fest.
Tariq nickt. »Er bekam ein Postgraduierten-Stipendium für Mikrobiologie an der New York University. Was sollte er machen? Mit der Frau brechen, die so viel zu seinem Erfolg beigetragen hatte? Nein. Er ließ sein Herz zurück und ging mit Neda in die Vereinigten Staaten. Yasmin brach jeden Kontakt mit ihm ab. Sie schickte seine Briefe zurück, ging nicht ans Telefon. Und als sie einen Monat später merkte, dass sie schwanger war, behielt sie es für sich.«
»Schwanger?«
»Um die Ehre ihrer Familie zu retten, zog sie nach Toronto. Sie trug einen Ring, sprach von einem Ehemann, der gestorben wäre, und ging mit keinen Mann mehr aus.«
Schweigen. Ich habe Angst zu hören, was ich schon weiß. »Du hast gesagt, diese Frau, diese Yasmin, war schwanger«, flüstere ich. »Hat sie ein Kind bekommen?«
Tariq legt seine Hände auf den Tisch, die Handflächen nach oben.
In meinem Kopf schwirrt es. »Du bist … Ich bin … ich bin dein …«
»Ja«, sagt er.
Ich starre meinen Halbbruder an. Meinen Halbbruder. Tariq Hasan ist mein Halbbruder. Mein Halbbruder. Ich denke das Wort immer wieder. Ich fasse es nicht. Ich löse mich auf. Fühle nichts.
»Vor einem Jahr starb meine Mutter an Brustkrebs«, sagt Tariq leise. »Bevor sie starb, sagte sie mir die Wahrheit. Sie sagte, es sei wichtig, dass ich erfahre,wer mein Vater ist. ›Vater? Was für ein Vater?‹, dachte ich. ›Ich hatte nie einen Vater. Warum soll ich einen Fremden kennenlernen, der meiner Mutter das Leben versaut hat?‹ Als ich ihre Sachen durchguckte, fand ich Artikel, die sie aus dem Internet ausgedruckt hatte. Artikel über ihn und seine Arbeit. Als der Sommer zu Ende war, siegte meine Neugier. Ich schrieb meinem Vater einen Brief und erzählte ihm von mir. Erzählte ihm, dass es mich gibt, erst mal.« Er kichert, aber nicht, weil es komisch wäre. »Das war der erste Brief, den ich je geschrieben habe. Also, richtig mit
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