Im Fadenkreuz der Angst
lassen, liefert er ihnen eine terroristische Zelle.«
»Deshalb hat er alle dazu gebracht, solche Sprüche zu klopfen«, sage ich. »Er hat unschuldige Leute ans Messer geliefert, um den eigenen Hals zu retten.«
»So was habe ich schon mehrfach erlebt, in den unterschiedlichsten Fällen«, nickt Mr Bhanjee. »Aber was will man auch erwarten, wenn die Staatsanwaltschaft Kriminellen für Informationen oder Zeugenaussagen Entgegenkommen oder Absprachen anbietet?«
»Trotzdem, auch ohne Malik hätte Dad ein Problem: Die E-Mail von ihm, die vor Gericht verlesen wurde, in der es um das Päckchen für Tariq ging. Aber auch dafür gibt es eine Erklärung. Ich kann beweisen, dass Dad unschuldig ist.« Ich zögere. »Mom, es tut mir leid, aber das kann ich nur Mr Bhanjee sagen.«
»Ich weiß es schon«, sagt Mom. Sie glättet ihren Rock, legt die Hände auf die Oberschenkel und blickt mir in die Augen. »Tariq Hasan ist der Sohn deines Vaters. Dein Halbbruder.«
Mir fällt der Unterkiefer runter.
»Mr Bhanjee und ich haben deinen Vater am Dienstag besucht«, sagt Mom. »Deswegen hatte ich die Migräne. Dein Vater hat mir gesagt, Hasan habe ihm vor seiner Fahrt nach Toronto einen Brief geschrieben.Während ich im Fernsehen Golf geguckt habe, hat er in der Abstellkammer Bilder und Erinnerungen für Hasan zusammengesucht.«
Ich starre auf den Boden, bekomme kaum ein Wort raus. Die Kacheln auf dem Boden verschwimmen vor meinen Augen. »Was … was wird jetzt mit dir und Dad?«
Mom rückt ihren Stuhl neben meinen. Sie streicht mir übers Haar. »Montreal ist lange her. Damals hatte ich das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmte. Aber als wir hierhergezogen sind, war das Gefühl weg. Und es ist auch nie wiedergekommen.« Sie nimmt mein Gesicht in ihre Hände. »Es ist deinem Vater schwergefallen, es mir zu sagen. Er war sicher, ich würde ihn verlassen und dich mitnehmen.«
Mir wird die Kehle eng. »Und – tust du es?«
»Ich habe daran gedacht«, sagt Mom. »Aber ich habe Dad gesagt, die Vergangenheit ist vergangen und ich liebe ihn.« Ein Lächeln spielt um ihre Lippen. »Ich habe ihm auch gesagt, wenn er so was noch mal macht, reiße ich ihm alle Barthaare aus, stopfe sie ihm in den Hals und dann soll der Teufel ihn ersticken.«
Ein unbehagliches Schweigen breitet sich aus. Mr Bhanjee bricht es. »Dein Vater hat der Staatsanwaltschaft gesagt, dass er Hasans Vater ist. Mit einer DN A-Probe von Hasan oder mit Haaren aus dessen Wohnung kann ihre genetische Verbindung bewiesen werden. Aber der beste Beweis, dass dein Vater gerade erst von dieser Verbindung erfahren hat und dass das Päckchen, das in der E-Mail erwähnt wurde, nur Familienfotos enthält, ist Hasans Brief.«
»Also lassen sie Dad jetzt frei?«
»Nein.« Mom schauert. »Nein, das tun sie nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil wir Hasans Brief nicht finden.«
»Was? Das kann doch nicht wahr sein. Dad hat ihn verschwinden lassen, stimmt’s? Er hatte Angst, wir würden ihn finden. Also hat er ihn zerrissen. Ihn verbrannt.«
»Nicht ganz«, sagt Mr Bhanjee. »Aber genauso schlimm. Er hat ihn versteckt. Und jetzt ist er weg.«
Mom schlägt sich mit der Faust auf die Brust. »Das FBI. Bestimmt ist der Brief weggekommen, als die hier alles zerschlagen haben. Ich bin sicher. Den Brief kriegen wir nie wieder zu Gesicht.«
»Wo hat Dad ihn versteckt?«, flüstere ich.
»In seinem Arbeitszimmer. In einem Rahmen, hinter einem Foto von dir und ihm. ›Der einzige Ort, an dem meine beiden Söhne zusammen sein konnten‹, hat er gesagt.«
Mein Herz macht einen Satz. »Wartet mal!«
Ich rase die Treppe runter und krieche unter mein Bett. Das zerbrochene Glas fällt aus dem Rahmen. Und tatsächlich, unter dem Foto von Dad und mir steckt Tariqs Brief, ordentlich zusammengefaltet, und ein kleines signiertes Foto von Tariq beim Schulabschluss.
Ich bringe den Brief zu Mom und Mr Bhanjee. Mom schlägt die Hand vor den Mund.
»Mom, wenn ich nicht nach Toronto gefahren wäre und Tariq nicht gefunden hätte, hättest du mir dann von ihm erzählt?«
Sie schüttelt den Kopf, wischt sich die Augen trocken. »Ich musste deinem Vater versprechen, dass ich es nicht tue. ›Was soll’s?‹, hat er gesagt. ›Ohne Tariqs Brief habe ich sowieso keine Chance. Dann sollten wir wenigstens unseren Stolz bewahren.‹«
»Also hätten wir den Brief nie gefunden. Das Geheimnis hätte direkt vor unserer Nase gelegen. Und Dad hätte wegen seiner Angst vor Schande für immer im
Weitere Kostenlose Bücher