Im falschen Film 1
Andererseits drückten sie meist Einsamkeit aus. Sie machten mich traurig. War ich so traurig gewesen?
Letztlich fand ich wenigstens noch ein paar Bilder, auf denen meine Mutter zu sehen war – für mich eine fremde Frau. Ein merkwürdiges Gefühl. Außer ihr gab es von meinen Verwandten nur noch eine Großtante zu sehen, die immerhin sehr sympathisch wirkte. Christian wusste nicht viel über die alte Dame, außer dass sie wohl unter Demenz litt. Ich musste bitter lachen. Das Gedächtnis schien also ein gängiger Schwachpunkt in meiner Familie zu sein. Auf die Frage, ob ich denn in der jüngeren Zeit keine Fotos gemacht hätte, zuckte Christian nur mit den Schultern. Und er war ebenso erstaunt wie ich, dass sich nicht einmal mehr mein Fotoapparat finden ließ, für den ich irgendwann einmal viel Geld ausgegeben hatte.
„Vielleicht ist er ja im Auto?“, fragte sich Christian, womit wir dann wieder bei seinem Lieblingsthema waren.
Am Ende wagte ich mich sogar noch einmal ins Schlafzimmer, um meine Garderobe zu inspizieren. Die aber auch dort nicht deutlich mehr hergab als im Krankenhaus. Denn ich besaß tatsächlich nichts außer Jeans und diversen nichtssagenden Oberteilen. Kein einziges Kleid und kein Paar Schuhe, dessen Absätze höher als zwei Zentimeter waren. Nicht mal eine schöne Bluse!
„Deine Lieblingsbluse hattest du beim Unfall an“, erläuterte mir Christian. „Die war leider hinüber.“
„Wie kann ich eine Lieblingsbluse haben, wenn ich eh nur eine habe?“, fragte ich leicht gereizt.
Er zuckte mit den Schultern. Wie so oft. Verschwieg er mir etwas? Oder gab es wirklich nicht mehr über mich zu erfahren? Waren die von Professor Bosch vermuteten geheimen Traumata der Grund dafür, dass ich so eine langweilige Dumpfbacke war? Oder war der Umstand, dass ich eine langweilige Dumpfbacke war, das einzige Trauma, das es gab?
Nachdem ich in unserer Wohnung nicht weiterkam, war für mich der logische nächste Schritt: Ich wollte arbeiten. Von mir aus in der Videothek. Immerhin spürte ich deutlich, dass ich mich für Filme und Serien begeistern konnte. Vielleicht würde ich mich dort wohler fühlen. Körperlich fit war ich, worauf wartete ich? Christian gefiel es nicht, dass ich meinen Chef anrief. Mein Chef dagegen war erleichtert. Auch er glaubte mir zwar zunächst nicht, dass ich wirklich keinerlei Erinnerung hatte. Aber da er selbst meine Schichten hatte übernehmen müssen, war ihm letztlich wurscht, was ich erzählte. Hauptsache, ich wollte wiederkommen. Ich stimmte zu, gleich am nächsten Tag vormittags zu arbeiten. Auch wenn Christian mir zehn Mal sagte, dass es „wegen der Versicherung“ besser gewesen wäre, wenn ich für eine Weile auf arbeitsunfähig gemacht hätte. Offensichtlich erhoffte er sich riesige Schmerzensgeldsummen von Viktorias Versicherung. Ich empfand mich aber nicht als arbeitsunfähig. Sondern eher als zuhauserumsitzunfähig. Mir fehlte so viel von meinem bisherigen Leben, dass ich das Bedürfnis hatte, möglichst schnell alles nachzuholen.
9
Genau eine Woche nach dem Unfall kehrte ich also zurück in die Arbeitswelt. Und auf dem morgendlichen Weg in die Videothek mit dem schönen Namen Video 2000 kehrte ich auch zum ersten Mal an den Ort des Unfalls zurück. Christian wollte mich eigentlich zur Arbeit bringen, aber erstens musste er zum Dreh, was ohne Auto bekanntlich länger dauerte. Und zweitens hatte ich das Gefühl, dass ich da alleine durchmusste. Allerdings wusste ich nun nicht einmal, wo genau der Unfall stattgefunden hatte.
„Irgendwo da auf der Höhe von dem Weinladen“, war alles, was Christian dazu wusste.
Also stand ich an diesem kühlen Wintermorgen im gleißenden Licht der aufgehenden Sonne rätselnd an der Bergmannstraße, umgeben von zahllosen Mamis mit Kinderwägen, leicht verkaterten Austauschstudenten aus aller Welt, früh fleißigen türkischen Gastronomen und mürrischen Berliner Omis mit trockenen Sprüchen. Und stellte ohne allzu große Überraschung fest, dass ich mich auch hier an überhaupt nichts erinnerte. Nicht an den Unfall, nicht an mich in dieser Straße. Dafür merkte ich, dass mir die Gegend gefiel. Der Mix der Leute, die entspannte Stimmung, die kleinen Läden. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass ich hier gerne wohnen würde. Bis ich realisierte, dass ich dies längst tat.
„Wenigstens ein Fakt, von dem ich begeistert bin“, würde Peter Fox sagen. Ich hatte mittlerweile festgestellt, dass ich all seine Lieder auswendig
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