Im Feuer der Nacht
Sie zum Feind zu haben. Wir wissen beide, wer von uns dabei überleben würde. Wenn einer Ihrer Männer verschwunden ist, sollten Sie sich nach einem anderen Schuldigen umschauen.“
Exakt sechzig Sekunden lang sagte niemand etwas. Die Kälte im Labor fraß sich in Ashayas Knochen, aber sie bewegte sich nicht. Sie war froh, gut gewappnet zu sein, als sie Mings nächste Worte hörte: „In dieser Einrichtung hat es einen sonderbaren E-Mail-Verkehr gegeben.“
Ein unentschuldbarer Fehler. Sie hatte nur vermuten können– Vermutungen waren immer gefährlich–, dass die altmodischen Internetleitungen in Cinnamon Springs nicht überwacht würden. „Ich bin sicher, Sie haben sich um den Schuldigen gekümmert.“
„Das werde ich– sobald es mir gelungen ist, die Verschlüsselung der Mails zu knacken.“
Sie dankte innerlich Talin McKade dafür, dass sie alles getan hatte, um ihre Spuren zu verwischen. „Wollen Sie meinen Organizer überprüfen?“, bot sie an. Für solche Fälle hatte sie ein Duplikat angefertigt. Die meisten Tests würde er überstehen. Die entscheidenden Worte dabei waren „die meisten“.
Ming beobachtete sie. „Im Moment nicht. Wenn Sie eine Verräterin sein sollten, müsste ich Sie töten. Das wäre unerfreulich.“
Ashaya hielt seinen Blicken stand. Sie wusste, dass es kein leichter Tod sein würde. „In der Tat.“
„Warum haben Sie Larsens Arbeit sabotiert?“
„Weil es mein Labor ist.“ Ihr Ton war eisig. „Sie haben mir versichert, dass ich die Leitung in diesem Projekt habe.“
„Larsen verfolgte parallel einen anderen Ansatz für das Implantat.“
„Unsinn.“ Sie gab ihm die elektronischen Daten. „Schauen Sie sich die Resultate an.“
„Was sind das für Daten?“
„Sie stammen von den Testobjekten.“
„Ich habe ganz andere gesehen.“
„Dann sollten Sie Larsen um eine Erklärung bitten.“ Ihre Stimme klang ganz ruhig. „Er muss die Daten gefälscht haben, um weitere Unterstützung für seine unerlaubten Experimente zu bekommen.“ Alles in diesem Labor musste eigentlich durch ihre Hände laufen und durch die von Ming, falls neue Forschungswege eingeschlagen wurden.
„Nach diesen Aufzeichnungen sind die Gehirnstrukturen der Vergessenen völlig anders als unsere.“
„Ja.“ Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Falls Larsen– der gerade auf dem Weg nach San Francisco war– die nächsten vierundzwanzig Stunden überleben sollte, musste sie sicherstellen, dass sie genug Material hatte, um seine Schlussfolgerungen zu widerlegen. Aber Ashaya glaubte nicht, dass sie auf diesen Notfallplan zurückgreifen musste, jedenfalls nicht, wenn Talin McKades Freunde so tödlich waren, wie sie aussahen.
Die einzige Schwierigkeit bestand darin, dass Larsen Jekaterina mitgenommen hatte und Ashaya keine Möglichkeit hatte, Talin McKade davon in Kenntnis zu setzen– der Sicherheitsdienst hatte den Internetzugang gesperrt. „Alle Experimente mit den Vergessenen sind für Programm I vollkommen wertlos, selbst wenn Larsen ordentliche Methoden angewandt hätte.“
Ming legte die Akte weg. „Wie auch immer, die Experimente haben Larsen ermöglicht, Vergessene zu eliminieren, die eine Gefahr hätten werden können.“
„Und wer sollen diese mystischen Gestalten sein?“ Ashaya gab ihm eine weitere Akte. Wo war die Grenze zwischen pragmatischer Gefühllosigkeit und Psychopathie? Was sie anging, gab es keinerlei Rechtfertigung für einen Genozid, keinerlei vernünftigen Grund. „Keines der Objekte hatte irgendwelche Fähigkeiten, die nur annähernd mit unseren vergleichbar gewesen wären. Sie haben ihr Blut viel zu lange mit Menschen und Gestaltwandlern vermischt.“ Im Grunde war das keine Lüge. Aber sie verschwieg etwas: unerwartete und sehr mächtige Mutationen, die durch die Vermischung der Arten über Generationen hinweg entstanden waren.
Ming legte auch diese Akte aus der Hand. „Ich könnte an Ihre… Situation die Bedingung knüpfen, dass Sie sich an Larsens Forschungen beteiligen.“
Die Bedrohung ihres Sohnes weckte ein ganzes Bündel unbekannter Neuronen in ihrem Gehirn. Obwohl sie Wissenschaftlerin war, wusste sie nicht, was diese Funken zu bedeuten hatten. Ihre Konditionierung war fehlerlos, ihre Schilde hermetisch dicht. „Das könnten Sie“, gab sie zurück. „Aber die Zeit, die ich mit Larsens unsinnigem Abenteuer vertrödeln würde, würde meine eigenen Fortschritte verzögern.“
„Soll das eine Drohung sein?“
„Nein, eine simple Tatsache.
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