Im finsteren Wald
erschreckt‘, überlegte er, ‚welche Feinde haben Rehe?‘ Er schüttelte den Kopf. ‚Wir Städter wissen von der Natur garnichts mehr, können keine Wetterzeichen deuten, keine Himmelsrichtung bestimmen und keine Spuren lesen. Die meisten Leute aus der Stadt könnte man im Wald dreimal um sich selber drehen und sie würden nie wieder herausfinden, selbst wenn die nächste Ortschaft nur einen Kilometer entfernt ist. Und mehrere Tage überleben, etwas zu essen oder Wasser finden? Fehlanzeige. Vielleicht sollte ich darüber mal einen Artikel schreiben.‘
Eine huschende Bewegung, nur aus den Augenwinkeln bemerkt, ließ ihn stutzen. Erneut blieb er stehen. War da etwas? Gab es doch jemanden in der Nähe, jemanden, der auch das scheue Tier verjagt hatte? Oder hatte er sich getäuscht? Durchdringend starrte er auf das buschige Unterholz, er sah nichts; kein Tier, kein Reh, keine Bewegung.
Raubtiere gab es in Deutschland nicht und vor Wildschweinen hatte er keine Angst. Obwohl eine Bache, mit Frischlingen, durchaus gefährlich werden konnte. Auch ein wild gewordener Keiler war nicht zu ignorieren, doch er glaubte, mit lauten Schreien das Schwarzwild vertreiben zu können.
Aber vielleicht gab es hier Wildkatzen? Oder näherte sich ein Pilzsammler? Aufmerksam, alle Sinne gespannt, pirschte sich Thomas weiter voran. Einen Weg gab es nicht, die ungefähre Richtung hatte er noch im Kopf, er umging nur die größten Buschgruppen. Sein Ziel, die Klosterüberreste, konnte nicht mehr weit entfernt sein.
7
Karin und Peter hasteten durch den Wald. Erschöpft und mit brennenden Augen suchten sie nach Tina. Nach drei Stunden stolperten sie mehr, als sie liefen. Der Rucksack lastete auf Peters Rücken wie ein Eisengewicht und schien ihn zu Boden drücken zu wollen, dabei befand sich kaum etwas darin. Die Wange brannte Peter, wo ihm ein Zweig eine blutige Schramme gerissen hatte. Vom Schweiß klebte die Kleidung an seinem Körper und der Mund glich einer trockenen Höhle.
So wie er war auch Karin am Ende ihrer Kräfte, Aststücke hingen ihr im Haar, die Hose scheuerte unangenehm im Schritt und die Klamotten waren feucht, doch sie suchten unermüdlich weiter. Das Laufen über den weichen, nachgebenden Boden strengte sie an, Ranken und Dornen von Brombeer- oder Himbeerpflanzen verhakten sich in den Hosen und wollten sie am Vorankommen hindern, Spinnennetze hingen ständig im Weg und verklebten die Augen. Karin hätte am liebsten die Handtasche fortgeworfen, sie empfand sie jetzt als Riesenballast.
An einen Scherz oder ein Versteckspiel Tinas glaubten sie schon lange nicht mehr. Im Moment wussten sie nicht, woran sie glauben sollten; konnte ein Teenager von beinahe vierzehn Jahren spurlos verschwinden? Konnte eine dreistündige Suche nach dem Mädchen, das vorher noch in Rufweite gewesen war, erfolglos sein?
Karins und Peters Stimmen klangen vom vielen Rufen wie heiseres Krächzen von Raben, trotzdem gaben sie nicht auf. Wie groß das Waldstück war, das sie auf der Suche durchgekämmt hatten, konnten sie nicht abschätzen, aber Peter sah zum dritten Mal einen großen Fliegenpilz neben einer dicken Buche stehen. Es war dieselbe Buche und derselbe Fliegenpilz. Sie hatten längst die Orientierung verloren und irrten zwischen den Bäumen umher. Dabei versuchten sie, in gegenseitiger Sicht- und Rufweite zu bleiben, das gab ihnen Halt in der Verzweiflung und half, sich nicht auch noch zu verlieren. Neben dem Stamm ging Peter schwer atmend in die Hocke und fuhr sich übers Gesicht. Angewidert schaute er auf seine feuchte Hand, von der Spinnweben herabhingen. Sollten sie aufgeben? Abbrechen, ins Dorf zurückkehren und die Polizei rufen? Zum ersten Mal bereute er es, kein Handy in der Familie zu dulden. Bisher waren sie auch sehr gut ohne ausgekommen, doch nun hätten sie gleich von hier die Beamten informieren und dann weitersuchen können.
Karin kam zu ihm. „Was ist?“, fragte sie mit heiserer Stimme.
Peter richtete sich wieder auf. „Der Pilz“, sagte er und trat gegen den Hut. „Der Scheißpilz, an dem bin ich schon dreimal vorbeigekommen! Was machen wir nur? Wir irren nur noch herum, und Tina ...“
Er sah seine Frau hilflos an. „Karin, wie kann das sein? Wo ist Tina abgeblieben? Sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Und so verrückt und einfach umzukehren, ohne uns Bescheid zu sagen, nee, so verrückt ist Tina nicht.“
Sein Blick fiel auf eine Schonung, die etwas zwanzig Meter entfernt begann.
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