Im finsteren Wald
bestäubt zu werden. Amsel, Drossel, Fink und Star zwitscherten vergnügt und bereiteten sich auf die Balz vor oder flirteten heftig miteinander. Die ersten von ihnen suchten bereits nach Gras, Blättern und Moos für den Nestbau.
Neben Hartmut saß Sieglind und reckte sich ebenfalls der Sonne entgegen. Sie spürte noch die Kälte des Winters in sich und schaute sich vergnügt um. Jetzt kam wieder die gute Zeit. Sie und Hartmut genossen beide Augenblicke wie diese, in denen sie für sich waren, zu zweit, ohne die Anderen. Und besonders, wenn es angenehm warm außerhalb der Höhlen war, wenn der Aufenthalt im Freien nicht trotz dicker Felle zur Tortur wurde. Als Gemeinschaft lebten sie auf engem Raum zusammen, hausten in den Höhlen, jagten in Gruppen, sammelten Nahrung in Gruppen. Es gab keinen Streit, doch Intimität gab es auch nicht und Zweisamkeit war kostbar geworden in diesem Leben. Sie kosteten jeden gemeinsam einsamen Augenblick aus, als wäre es ihr Letzter. Und vielleicht war er es auch, das wusste niemand. Das Leben, das sie führten, war gefährlich und kürzer als in den Siedlungen.
Alt waren sie geworden. Hartmut hätte vor einem Monat seinen zweiundfünfzigsten Geburtstag feiern können, doch Geburtstage feierten sie nicht mehr. Er wusste ebensowenig wie alle anderen, wie alt er war. Sein Haar fiel dünn und grau auf die mageren Schultern und wurde immer weniger, der Bart hatte sich auch schon lange grau gefärbt. Tiefe Falten durchzogen das wettergegerbte Gesicht, auf der rechten Wange leuchtete dunkelrot eine alte Narbe. Hier hatten ihn die Krallen eines Wiesels erwischt und ein Ohr hing in Fetzen am Kopf, ebenfalls Spuren eines Jagdunfalls.
Nachdenklich reckte er die müden, steifen Glieder. „Ich werde bald sterben“, sagte er plötzlich.
„Warum sagst du das?“, fragte Sieglind, riss die Augen auf und musterte ihn. Auch an ihr waren die Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Mehrere Geburten, Hunger und Wetterunbilden hatten sie gezeichnet. Auch sie zierte eine große Narbe, ein Hirsch hatte sie mit einem gewaltigen Tritt am Kopf getroffen und die halbe Kopfhaut herunter gerissen. An der Stelle wuchsen keine Haare mehr, doch der Schädel war zum Glück heil geblieben.
„Ich fühle es“, sprach Hartmut und machte eine kleine Pause. „Und ich frage mich, habe ich es richtig gemacht, damals, als ich euch rettete und in den Wald führte. Hattest du ein gutes Leben?“
„Hartmut“, sagte Sieglind weich, „oh Hartmut. Das Beste! Ohne dich wären wir alle auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, hast du das vergessen?“
„Nein. Aber es gab so viele Tote. Denk an Rigismund, Elsa, an Mechthilds erstes Kind, den namenlosen Jungen, denk an ...“
„Ach Hartmut. Im Dorf wäre Elsa sicher auch krank geworden und gestorben. Die Leute sterben auch im Dorf.“
„Und das Leben, war es lebenswert? Es gab viele Entbehrungen, Hunger, Kälte. Wäre es im Dorf nicht besser verlaufen? Vielleicht hätten sie uns nach Jahren doch wieder aufgenommen?“
„Das glaube ich nicht, und du glaubst es auch nicht! Unser Leben war ... ist gut, so, wie es ist, Hartmut. Du hast mir Liebe gegeben und denk an Maria, an Elsa zwei und an Editha, haben wir nicht prächtige Töchter?“
Sie lehnte sich an ihren geliebten Hartmut und er legte den Arm um sie. Sie waren glücklich und sie hatten sich immer gegenseitig geholfen und Kraft gegeben.
„Ja, das haben wir. Du hast recht, wie immer.“
„Und wir haben eine gute Gemeinschaft aufgebaut, abseits der ach so gesitteten Dörfer. Bei uns existieren keine Gewalt, kein Raub, kein Streit, wir leben hart, aber in Harmonie, in Einklang mit der Natur. Krieg? Ist so fern wie die Gestirne am Himmel.
Dank unserer Töchter und dank der Kinder der anderen wird diese Gemeinschaft, die wir mitbegründet haben, weiter bestehen, wenn wir schon lange verfault und vermodert in der Erde liegen. Das ist ein guter Gedanke, einer, der mir das Sterben erleichtert, wenn die Zeit gekommen ist.“
„Eine Gemeinschaft ohne Männer“, murmelte Hartmut und ein bitterer Zug zeigte sich in den Falten seines Gesichts. „Männer werden geraubt, gefangen und zur Zeugung von Nachwuchs gezwungen, danach braucht man sie nicht mehr und lässt sie verschwinden. Ist das im Einklang mit der Natur?“ Seine Stimme klang bitter.
„Es wird sich zeigen, ob es immer so bleiben wird. Vielleicht kommt die Zeit, in der Männer wieder die Hauptrolle in dieser Gemeinschaft spielen werden, ich weiß es
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