Im fünften Himmel
da?«, fragte Bridget.
»Du warst im dritten, ich im zweiten Highschool-Jahr. Sechzehn? Siebzehn?«, antwortete Percy.
»Ohmeingott! Wir können doch unmöglich schon so lange zusammen sein! Wahnsinn!«
»Wahnsinn â¦Â«
Wo war Jessica während dieses Gesprächs gewesen? Im Schneidersitz auf einer gesteppten Tagesdecke mit schrillem Blumenmuster, berieselt von unverschämt teuren Kartoffelchipskrümeln aus der Minibar, die irgendwie aus der Tüte gehüpft waren. Sie war kurz aus der Unterhaltung ausgestiegen, um den Preis der Krümel zu berechnen, hatte aber rasch bemerkt, dass eine zutreffende Schätzung mathematische Fähigkeiten erforderte, die sie zuletzt beim Ausfüllen ihres SAT-Tests mit einem harten Bleistift an den Tag gelegt hatte. Chipstüte, Tagesdecke, cremefarbene Wände, gerahmte Drucke gesichtsloser Landschaften. Offensichtlich ein Hotelzimmer. Aber wo?
Sie ruft sich alle Städte ins Gedächtnis, die sie in den letzten zwei Jahren bereist hat: Los Angeles. Minneapolis. Phoenix. Seattle. Atlanta. In den Städten selbst kann sie kaum Zeit verbringen, sie landet nur auf dem Flughafen, holt den Mietwagen ab und fährt zum Vororthotel, das der nächsten Schule auf ihrer Liste am nächsten liegt, zu der nächsten Gruppe von Mädchen â manchmal Jungen, aber meistens Mädchen â, die sich fürs zehnwöchige Do Better -Erzählprojekt an Highschools angemeldet hatten. So nennen sie sich selbst: die Mädchen . Nicht Mädels, auch nicht Girls oder Girlz oder gar Grrls , lauter fehlgeleitete Marketingbegriffe, und ganz bestimmt nicht junge Frauen oder junge Damen, wie sie meist von Eltern, Lehrern, Trainern, Beratern und anderen ahnungslosen Gestalten bezeichnet werden. Jessica wird dafür bezahlt, die Mädchen zum Sprechen zu ermuntern â laut und deutlich.
Jessica hat unzählige Geschichten gehört, und jetzt fallen sie ihr in Bruchstücken ein â immer noch in der Schlange des Clear-Sky-Service-Centers. Die Geschichte der zur Fahrerin Auserkorenen, der einzig Nüchternen auf einer Party, die beim Versuch, ihrem besoffenen Freund die Autoschlüssel wegzunehmen, ausrutschte und sich den Schneidezahn abbrach. Die Geschichte der Viertklässlerin, die sich die Augenbrauen abrasierte, nachdem der Klassentyrann sie mit Eichhörnchenschwänzen verglichen hatte. Die Geschichte vom Vater, der die Lieblingsporzellanpuppe auf den Boden warf, um zu beweisen, dass sie nicht zerbrechen würde, was sie natürlich trotzdem tat. Die Geschichte vom Froschschenkelessen in einem eleganten Pariser Restaurant, bei dem der Sternekoch durch die Bitte um Ketchup beleidigt wurde. Die Geschichte von der Entdeckung Ayn Rands und ihrer Schriften und dem folgenden Gezeter gegen die »Zweithänder«. Die Geschichte darüber, einen Joint an einen heimlichen Schwarm weiterzugeben und von der Vorstellung, indirekt seine Lippen berühren, higher zu werden als vom Marihuana selbst. Die Geschichte von den ehemals besten Freundinnen, die einander im Schulkorridor auswichen. Die Geschichte über die Spitzenmathematikerin, deren Talente an magersüchtige Rechenaufgaben der Sorte »Wie viele Stunden auf dem Laufband brauche ich, um einen Apfel, eine Scheibe Käse und vier Mandeln wieder abzuziehen?« verschwendet wurden. Die Geschichte von der Fahrt mit der Achterbahn mit anschlieÃendem Erbrechen und erneutem Einsteigen. Die Geschichte vom Jungen, der ein Mädchen liebte, sie fickte und dann nie wieder simste. Die Geschichte vom Zusammenprall mit dem Pfosten beim Tetherball.
Die Geschichten halten wertvolle Lektionen fürs Leben bereit. Dass auch schlechten Menschen Gutes zustöÃt. Dass es möglich ist, eine schlimme Situation noch schlimmer zu machen, indem man sie nicht zu Ende denkt. Dass Eltern keine Ahnung haben oder nur ganz selten. Dass es gut ist, Neues zu probieren, auch wenn das Neue irgendwie eklig ist, weil erst neue Erfahrungen einen von der Person zur Persönlichkeit machen. Dass Kunst transzendent sein kann. Dass Lust allmächtig ist, dass Drogen Spaà machen und dass nicht jeder, der sie konsumiert, gleich ein Loser ist. Dass es zum Leben gehört, Menschen zu verlieren. Dass die Tragödie nicht weit ist, wo die Komödie endet. Dass jeder Mensch an seinem Körper etwas auszusetzen hat, auch wenn manche es zu weit treiben, fast bis zum Tod. Dass Angst
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