Im fünften Himmel
surreale Situation nichts ausmacht. Ich meine, wie ist das möglich, dass ich dir bei Starbucks am Tisch gegenübersitze? Wie soll ich ein Gespräch mit dir überhaupt anfangen? Es gibt so viel zu sagen. Und noch mehr, was wir sagen könnten, aber vielleicht besser nicht sollten. Und es ist nicht leicht, beides zu unterscheiden und Fehler zu vermeiden.«
[Pause.]
»Ãhm, der alberne Reim war keine Absicht.«
»Dachte ich mir.«
»Danke, dass du keinen dummen Spruch gemacht hast, Marcus.«
»Lag mir auf der Zunge, aber ich habe es gelassen. Ich wollte dich nicht noch mehr verunsichern.«
»Noch mal danke. Ich weià es sehr zu schätzen, dass du mich nicht verletzen, äh, schon wieder ein Reim.«
»Haha.«
»Also.«
»Also akzeptieren wir einfach für die Dauer unseres Gesprächs â¦Â«
»Die nächsten gut hundert Minuten â¦Â«
»â¦Â dass wir, sosehr wir uns auch bemühen, beide Dinge sagen werden, die wir gleich wieder zurücknehmen wollen. Und ich werde ganz bestimmt mehr bedauerliche Sachen sagen als du. Lass uns vereinbaren, dass wir uns deswegen nicht selbst fertigmachen, okay? Wir wollen uns heute Nachmittag nicht mit Bedauern aufhalten. Wir wollen einfach ⦠reden.«
»Reden.«
»Bloà reden.«
»Tut mir leid, aber â«
»Keine Entschuldigungen.«
»Stimmt. Entschuldiâ«
»Du entschuldigst dich schon wieder!«
»Oh mein Gott. Tatsache. [Husten.] Es ist bloà so, ich hatte heute ohnehin schon eine ganze Menge im Kopf, bevor ich mit dir zusammengestoÃen bin. Mein Hirn ist überladen. Ich bin überfordert damit, das alles zu verarbeiten.«
»Das kann ich nachvollziehen.«
»Es kommt mir vor, als würde ich Prosopagnosie bekommen oder so was.«
»Proso-was?«
»Prosopagnosie. Gesichtsblindheit. Eine Hirnschädigung, bei der man nicht mehr in der Lage ist, Gesichter oder Gegenstände zu erkennen. Oliver Sacks. Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. «
»Interessant. Nimmst du Medikamente wegen der Krämpfe? Und gegen die Erkältung?«
[Husten.] »Klar.«
»Und helfen sie auch gegen die Pro-sop-ag-no-sie?«
»Nein. [Husten.] Die Medikamente helfen absolut überhaupt nicht.«
ZWEI
(Seltsamere Dinge)
»Und warum New Orleans?«
»Ach, da arbeite ich bloà manchmal.«
»Als was denn?«
»Als Freiwilliger bei verschiedenen langfristigen Wiederaufbauprojekten, immer in den Ferien.«
»Donnerwetter. Ich bin beeindruckt.«
»Musst du nicht. Heb dir das für die Einheimischen auf, die, seit die Deiche gebrochen sind, jeden Tag daran arbeiten, von morgens bis abends.«
»Ist es immer noch so schlimm da unten, selbst nach so langer Zeit?«
»So lange ist es noch gar nicht, Jessica. Nur vier Jahre, und im gröÃeren Zeitrahmen ist das bloà ein Zwinkern. Oder bloà das z von zwinkern, noch dazu kleingeschrieben. Aber dieses Land ist so kurzsichtig. Wir wollen immer alles schnell wieder am Laufen haben, aber in New Orleans wird das auf keinen Fall funktionieren.«
»Tut mir leid.«
»Keine Entschuldigungen mehr, Jessica.«
»Stimmt. Ich meine, ich wollte nicht so ignorant klingen, aber ich bin es wohl.«
»Das ist ja nicht deine Schuld. Ich wusste auch nicht, wie schlimm es war, bis ich hingefahren bin und es selbst gesehen habe. Woher soll man es sonst wissen? Es gibt viel zu viel ScheiÃe in der Welt, die unsere Aufmerksamkeit beansprucht. New Orleans ist keine Nachricht mehr wert. Die Medien haben das Interesse verloren, aber die Probleme sind deshalb nicht kleiner geworden. Die ärmsten Gegenden sind heute kaum besser in Schuss als in den Wochen direkt nach dem Hurrikan. Ganze Viertel sind mit Brettern vernagelt und verlassen. Familien leben immer noch zusammengepfercht in den provisorischen Hilfswohnwagen, haben nur begrenzt Zugang zu Schulen, Ãrzten, Lebensmittelläden â zum Lebensnotwendigsten. Es macht einen fertig, das mit eigenen Augen zu sehen und mit diesen Leuten direkt zu reden.«
»Wie bist du denn dazu gekommen?«
»Durch ein Seminar.«
»Ach, echt? Was ist denn ⦠äh ⦠ich meine ⦠äh â¦Â«
»Was ist was?«
»Ãh ⦠Ich wollte gerade fragen, was du eigentlich studierst.«
»Und du hast gezögert, weil �«
»WeiÃ
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