Im fünften Himmel
Jessica nichts eingefallen, was sie Sunny hätte sagen können. Jetzt ist sie überzeugt, sie könnte stundenlang am Krankenbett sitzen und Geschichten erzählen. Lens Lied war die auffälligste Auslassung ihrer Unterhaltung, könnte sie ihr sagen, obwohl Marcus verdächtig viel nach Figuren aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit gefragt hatte â Bridget und Percy, Scotty und Sara, Paul Parlipiano und Mac, Bethany und Marin, nach ihren Eltern, ihrer Arbeitgeberin Cinthia, ihrer Vermieterin in Brooklyn, sogar ihrer alten Englischlehrerin Ms. Haviland, Herrgott noch mal â ehe er sich zu einer Frage nach dem Menschen durchringen konnte, den er am längsten (sogar länger als Jessica) und besten (allerdings nicht besser als Jessica) kannte: Hope. Und noch aufschlussreicher war Jessicas beschämende erste Antwort darauf (»Sie hat das Studium geschmissen!«), was mit Sicherheit der negativste und zugleich unwichtigste Teil des Lebens ihrer besten Freundin war. Jessica fühlte sich nicht bloà immer noch von Hopes Status als »der Netteren« irrational bedroht, sondern Marcus hatte es auch gespürt, und das schien Jessica besonders unfair, so als bewiese dieser sture Charakterfehler, dass sie sich seit ihrer und Marcusâ Trennung vor drei Jahren überhaupt nicht weiterentwickelt habe.
Ja, Jessica könnte aus diesem wenig schmeichelhaften Geständnis eine wertvolle Lektion fürs Leben pressen (Ich habe versucht, Hope schlecht aussehen zu lassen, damit ich selber besser aussehe. Die Strategie geht immer nach hinten los, Sunny. Funktioniert nie) , aus der Sunny etwas über die komplizierte Dynamik von Frauenfreundschaften lernen konnte â was ihr nützen würde, sollte sie jemals ihrer eigenen besten Freundin vergeben müssen (ein Mädchen namens Leah, die wie Hope die Schüchternere, Bescheidenere und Nettere der beiden ist), weil die irgendetwas getan hat (zum Beispiel ohne Grund nett sein), was ihre Freundschaft auf die Probe stellt. Jessica würde auÃerdem â düster und sardonisch â darauf hinweisen, dass solche Kleingeistigkeit für Menschen wie Hope oder Leah gar nicht nachvollziehbar ist, weil es für sie ganz natürlich ist, zu vergeben und zu verzeihen. Hauptadressatin des groÃzügigen Mitgefühls ihrer besten Freundin zu sein, das ist der groÃe Vorteil und zugleich die schwere Last, wenn man die nicht so Nette ist. Jessica weià nur zu gut, dass zu viel Nettigkeit bei der anderen letztlich zu Gefühlen von Schuld und Unzulänglichkeit fühlt.
Viele Freunde und Verwandte haben schon versucht, ihr mit gut gemeinten Ratschlägen ein Leben in Bitterkeit und Bosheit zu ersparen. Sogar Marcus, der ihr immer gesagt hat, er liebe sie so, wie sie sei, hat ihr oft zu zeigen versucht, wie sehr ihre negative Haltung sie runterzog. Es wurde zwar nie ausgesprochen, aber Jessica war immer davon ausgegangen, dass Marcus sie sich ein bisschen mehr wie ihre optimistischere, offenere Freundin wünschte. Wieso kannst du nicht du selbst sein, bloà ein bisschen netter? Diese unausgesprochene Frage fand Jessica zutiefst beleidigend, als wüsste sie nicht selbst, wie deprimierend und anstrengend es war, mit so einem Charakterfehler durchs Leben zu gehen. Es lieà sich nicht leugnen, dass sie nicht zum Sonnenschein geboren war. Doch was sich dagegen tun lieÃ, mit dieser Frage hatte Jessica sich schon zu viele Jahre herumgeschlagen, schlägt sie sich immer noch herum, allerdings inzwischen etwas weniger, seit sie für Do Better arbeitet. Jessica hat sich als Vorbild immer unwohl gefühlt und zuckt bei dem Begriff immer noch zusammen, weil jeder, der sich auf ein solches Podest stellen lässt, geradezu darum bettelt, heruntergestoÃen zu werden. Als Jessica diese Zweifel äuÃerte, wies Sunny sie auf etwas hin, was sie auch selbst hätte merken müssen:
»Du bist ein Vorbild, weil du nicht vollkommen bist. Als du so alt warst wie ich, warst du total verkorkst, aber es ist was Anständiges aus dir geworden. Du gibst mir Hoffnung! Aber erzähl das niemandem, sonst hält man meinen Optimismus für eine dieser seltenen Geisteskrankheiten, von denen du mir erzählt hast.«
Unvollkommenheiten reichten aber nicht, um Jessica bei den Mädchen beliebt zu machen â schlieÃlich ist die Welt voll mit verkorksten Arschlöchern. Doch ihr Talent zum
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