im Geisterschloss
war.“
„Kannten Sie denn noch jemanden von den Harringers?“, fragte Hanni.
„Ich kannte sogar die ganze Familie und am allerbesten die Ursel.“
„Ursel?“, fragte Jenny neugierig.
„Das war die Erbtochter – nur ein paar Jahre jünger als ich. Ein hübsches Mädchen – wunderschön!“
„Ist es die, die von zu Hause ausriss?“, wollte Nanni wissen.
Lene nickte. „Sie hatte sich in einen jungen Baumeister verliebt. Den sollte sie nicht heiraten. Da reiste sie ihm heimlich nach. Geschwister hatte sie nicht. Deshalb übergab ihr Vater das Schloss und alle Güter, die dazugehören, dem Sohn seines Bruders. Den hätte die Ursel heiraten sollen, wenn es nach den Vätern gegangen wäre. Gerhard hieß er. Geheiratet hat er nie. Er muss die Ursel sehr gern gehabt haben. Vor acht Jahren ist er tödlich verunglückt, er ist vom Pferd gestürzt. Seitdem suchen sie nach einem Erben.“
„Ob die Ursel noch lebt?“, fragte Hanni.
„Das glaube ich nicht“, antwortete Lene. „Wenn sie einen von den vielen Aufrufen gelesen hätte, wäre sie gekommen. Sie liebte das Schloss sehr. Aber vielleicht hat sie Kinder.“
„Die müssen längst erwachsen sein“, meinte Peter nachdenklich. „So zwischen dreißig und vierzig, nicht wahr?“
„Das kann schon sein“, sagte Lene.
„Und der da drüben beim Großvater behauptet also, ein Sohn von ihr zu sein“, rief Peter. „Den müssen wir uns ansehen! Wir gehen auf den Hof hinaus und tun, als ob wir ein Rad reparieren. Du kommst doch mit, Lene?“
Eigentlich ging es der alten Lene ja gegen den Strich, einem Besuch regelrecht aufzulauern. Aber dies war eine Ausnahme. Wenn wirklich ein Sohn ihrer Baroness Ursel wieder ins Schloss kam, dann wollte sie ihn gar zu gern sehen. Sie ging also mit den jungen Leuten auf den Hof hinaus und setzte sich auf die Bank neben dem Tor. Dort musste der Besuch durch. Peter holte sein Fahrrad und nahm es total auseinander.
Da ... Schritte! Die Haustür wurde geöffnet. Peters Großvater erschien mit einem Mann. Die Freunde sahen von dem Rad auf, legten das Werkzeug hin und grüßten. Dabei musterten sie den Fremden ausgiebig: das breite Gesicht mit der scharfen Nase und den unruhigen kleinen Augen, das dünne rötliche Haar und die gedrungene Figur mit den fahrigen Bewegungen.
Der Bürgermeister winkte seinen jungen Gästen zu. Da entdeckte er Lene bei ihnen. Obwohl er schon fast am Hoftor war, drehte er sich um und hielt auch seinen Gast fest. „Einen Augenblick, bitte“, sagte er und rief: „Lene, komm doch einen Moment zu mir herüber!“
Er machte bekannt: „Dies ist Herr Lohse-Harringer, der seine Erbansprüche auf das Schloss anmeldet, und dies unsere alte Lene, die noch Ihre Mutter gekannt hat. Du erinnerst dich noch an die Baroness Harringer, Lene?“
„Und ob ich mich erinnere! So – die Ursel war Ihre Mutter?“, wandte sie sich an den Fremden. „Da werden Sie mir gewiss einmal erzählen, wie es ihr später ergangen ist. War sie glücklich? Und hatte sie manchmal Heimweh?“
„Ja ... doch ... gewiss war sie glücklich“, stotterte der Fremde. „Sie ist jung gestorben. Ich kann mich kaum an sie erinnern.“
„Und ähnlich sehen Sie ihr auch gar nicht“, stellte Lene fest. „Die Ursel war groß und blond und schlank. Das weißt du doch auch noch, Bürgermeister?“ Der lächelte und Lene fuhr fort: „Na ja, du warst damals auf der höheren Schule und interessiertest dich nicht besonders für Mädchen. Noch nicht“, setzte sie hinzu und lachte ihn an.
Der Fremde wurde immer unsicherer. „Ich bin mehr nach meinem Vater geraten, das hat er selber oft gesagt. Doch entschuldigen Sie mich, ich muss zu einer Verabredung.“
„Ja, ja“, antwortete Lene. Sie murmelte für sich, doch so deutlich, dass es alle verstanden: „Der Baumeister, mit dem die Ursel fortging, hatte auffallend große blaue Augen. Die hatten es ihr besonders angetan. Er war auch groß und blond und schlank.“
„Also, guten Abend, Herr Bürgermeister“, sagte der Fremde. „Ich habe es eilig. Wie gesagt: Gibt es Schwierigkeiten, dann bitte ich mindestens um das Vorkaufsrecht. Schließlich ist es das Schloss meiner Väter.“ Weg war er, und alle sahen ihm wortlos nach.
Mit einem Mal platzte Hanni heraus: „Schloss meiner Väter! Das hat er wohl in einem Kitschroman gelesen?“
„Ja“, antwortete der Bürgermeister grimmig, „und er will wahrscheinlich irgendein merkwürdiges Unternehmen darin aufziehen – ein Sanatorium für
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