Im Gewand der Nacht
hatten.
»Aber Turgut, wir könnten sie doch behalten …«
»Das Ding ist absolut wertlos, Mama!« Aufgebracht und erschöpft zugleich grub Turgut mit einer Entschlossenheit weiter, die keinen Widerspruch duldete.
»Schon gut, schon gut.«
Mühsam machte Neşe ein paar Schritte über den rutschigen, unebenen Untergrund und blieb in der Nähe des Schlickhaufens stehen. Mit einem bedauernden Seufzer betrachtete sie die Krone und dachte sogar einen kurzen Moment daran, dass sie ihrer Tochter vielleicht stehen könnte. Dann machte sie einen Schritt nach vorn, um das Imitat auf den Haufen zu werfen. Dabei stieß sie mit dem Fuß gegen etwas und rutschte aus.
»Turgut!«
Als sie das Gleichgewicht verlor, stürzte er herbei, war aber nicht schnell genug, um sie noch auffangen zu können.
»Mama!«
Neşe landete ohne das geringste Geräusch und ohne sich zu verletzen auf dem Boden; der Schlick hatte ihren Sturz abgefangen. Turgut ließ den Strahl seiner Taschenlampe über den mit Morast bedeckten Körper seiner Mutter gleiten und versuchte verzweifelt, sich das Lachen zu verkneifen. Mit all den Kleidungsstücken, die sie übereinander trug, und mit dem Tuch um ihren Kopf ähnelte die schlammverschmierte Neşe noch mehr als sonst einem Lumpenbündel. Arme alte Mama, dachte Turgut mitfühlend. Egal, was sie macht – ihre Träume werden niemals auch nur annähernd in Erfüllung gehen. Arme alte Bauersfrau.
Als er sich vorbeugte, um ihr auf die Beine zu helfen, fragte er: »Worüber bist du gestolpert?«
»Über irgend so ein Ding«, erwiderte Neşe kurz angebunden und deutete mit der Hand unwirsch auf den Boden.
Der Gegenstand sah aus wie ein langer, weißer Ast und lag neben dem Schlickhaufen. Turgut ließ den Strahl der Taschenlampe darüber gleiten, bis er schließlich zu einer verdickten Stelle gelangte, an der der Ast in den Stamm übergehen musste oder vom Baum abgebrochen war. Doch stattdessen erblickte er eine Hand, eine anmutige, schlanke Hand, deren lange Finger mit zahlreichen glitzernden Ringen verziert waren.
Nachdem Hülya İkmen geduscht, sich geschminkt und umgezogen hatte, machte sie sich auf den Weg zu ihrem Vater, der jedoch seine Pläne geändert hatte und gerade aufbrechen wollte.
»Wir müssen später miteinander reden«, sagte er und schob sie gleich wieder aus seinem Büro.
Trotz des Zigarettenrauchs, der an seiner Nase vorbei in seine Augen stieg, konnte Hülya erkennen, dass das Gesicht ihres Vaters aschfahl war. Diesen Ausdruck hatte sie erst zweimal an ihm gesehen – nach dem Erdbeben und nach dem Tod ihres Großvaters –, und er machte ihr Angst.
»Papa …«
»Nicht jetzt, Hülya. Geh bitte einfach wieder nach Hause.«
Sie blickte an ihrem Vater vorbei in Richtung seines Assistenten Orhan Tepe, doch dessen ausdruckslose Miene hielt auch keine Antworten für sie bereit. Daher zuckte sie nur die Achseln und stieg die Treppe wieder hinunter. Mit etwas Glück begegnete sie vielleicht ein paar jungen, attraktiven Polizeibeamten, die einen wohlwollenden Blick auf ihr sorgfältiges Make-up und ihre nagelneue Jeans werfen würden. Dann wäre die ganze Mühe wenigstens nicht umsonst gewesen – auch wenn ihr Herz bereits vergeben war. Aber so sehr sie auch zu lächeln versuchte, es gelang ihr nicht, nicht einmal bei diesem angenehmen Gedanken. Vielleicht lag es am Gesichtsausdruck ihres Vaters oder an ihrer Sorge um Hatice – oder daran, was sie über Hatice wusste … Ihr Herz begann zu rasen.
Hülya versuchte, einen möglichst großen Abstand zwischen sich und ihren Vater zu bringen, und rannte förmlich die Stufen hinunter.
Während İkmen seiner Tochter nachsah, zog er sein Sakko an und suchte in den Taschen nach Zigaretten.
»Okay, Orhan«, wandte er sich an seinen Assistenten. »Dann wollen wir mal.«
»Ja, Chef.«
Als wenige Minuten zuvor der Anruf eingegangen war, hatte İkmen beschlossen, sich sofort auf den Weg zu machen. In einem Garten oder vielmehr in einer unbekannten Zisterne unterhalb eines Gartens an der Türbedar Sokak hatten eine Frau und ihr Sohn, die nach einem Schatz suchten, eine Leiche gefunden. Die Tote war jung und lag noch nicht lange dort. İkmen hatte ein ungutes Gefühl. Er hatte schon ein ungutes Gefühl gehabt, bevor er diese Details überhaupt erfuhr. Sein Herz klopfte wie verrückt, und seine Kopfhaut prickelte unangenehm. Diese Empfindungen hatte sein verstorbener Vater immer als »Hexensinn« oder häufiger noch als »diese unheimliche
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