Im Gewand der Nacht
in Schweigen, während der Fotograf die Leiche aus jedem erdenklichen Winkel ablichtete. Abgesehen von der tragischen Tatsache, dass das Mädchen tot war, hatte die Szenerie nichts besonders Dramatisches an sich. Die Todesursache war noch nicht festgestellt worden, aber es gab kein Blut und keine offensichtlichen Verletzungen. İkmen dachte sofort daran, dass Hatices Tod vielleicht auf chemischem Wege herbeigeführt worden war. Sämtliche Verbrecherbanden der Stadt hatten ihre Finger irgendwie im Drogenhandel, und wenn sie dem Mädchen vielleicht eine hübsche kleine Dosis Kokain verpasst hatten, um sie etwas aufzulockern, und sie das Zeug womöglich nicht vertragen hatte … Aber die Assoziationen, die ihre kunstvolle Kleidung weckte, passten irgendwie nicht zu der Vorstellung von groben, ungehobelten Zuhälterkreisen.
İkmens Überlegungen wurden von einem hektischen Wirrwarr oberhalb des Zisterneneingangs unterbrochen. Tepe ging mit vorsichtigen Schritten zu der Öffnung in der Decke und erkundigte sich, was da oben vor sich gehe. İkmen konnte die Antwort nicht hören, aber als Tepe laut auflachte, drehte er sich um.
»Was ist los?«, fragte er und beobachtete, wie sein Assistent versuchte, sich das Lachen zu verkneifen.
»Dr. Sarkissian ist gerade angekommen«, sagte Tepe. »Die Männer, äh, sie wissen nicht, wie sie ihn hier runterkriegen sollen.«
Dr. Arto Sarkissian, armenischer Christ und Pathologe, war Çetin İkmens ältester und bester Freund. Er teilte İkmens Liebe für ihre gemeinsame Heimatstadt, und seine Begeisterung für Essen in jeglicher Form – aber vor allem für Süßes – zeigte sich in seinem stetig wachsenden Leibesumfang, was sich jetzt als Problem erwies. Der Eingang zur Zisterne war nicht sehr groß, und der Abstand zum schlammbedeckten Boden konnte für einen kleinen Mann wie Sarkissian zu einem unüberwindbaren Hindernis werden. Daher würde es nicht einfach werden, ihn zum Tatort hinunterzubefördern.
İkmen schnaubte verärgert und schob sich an seinem Assistenten vorbei zum Eingang. Draußen stand ein Wachtmeister namens Avcı, der die ganze Szene beobachtete und nicht einmal versuchte, sein Lachen zu verbergen.
»Ich würde es begrüßen, wenn Sie in Gegenwart eines toten Kindes nicht lachen würden«, fuhr İkmen den Polizisten an, der ihn daraufhin erschrocken ansah. »Wenn Sie die Zeit, die Sie bereits mit Lachen vergeudet haben, zum Nachdenken genutzt hätten, dann wären Sie vielleicht zu der Schlussfolgerung gekommen, dass eine Leiter dieses Problem lösen könnte.«
Peinlich berührt, räusperte Avcı sich. »Ja, Chef.«
»Dr. Sarkissian ist ein bedeutender Mann«, fuhr İkmen fort, »Sie können nicht erwarten, dass er einfach in ein Loch im Boden springt. Ich bin ausgesprochen verärgert.«
»Es tut mir Leid, Chef. Ich werde sofort eine Leiter besorgen.«
»Ja, tun Sie das«, sagte İkmen. Dann richtete er seinen Blick auf den urplötzlich ernst dreinblickenden Tepe. »Und wenn ich noch mal irgendjemanden von euch lachen höre, dann werde ich genau die Art von Rache üben, von der ihr wisst, dass nur ich dazu fähig bin.«
Sofort erstarben sämtliche Gespräche und alles Gekicher außerhalb wie innerhalb der Zisterne. Jeder, der mit ihm arbeitete, wusste, dass İkmen gerecht, ehrenhaft und nicht nachtragend war, dass es andererseits aber schrecklich sein konnte, ihn zum Feind zu haben.
Als der Pathologe schließlich in die Zisterne hinabstieg, geschah dies mit Würde und ohne großes Theater.
»Wie geht es ihr?«, fragte Mehmet Süleyman seinen Schwiegervater, als dieser sich vor dem Haupteingang des Krankenhauses zu ihm gesellte.
»Sie ist immer noch mit der Geburt beschäftigt«, erwiderte der alte Mann trocken. Doch dann lächelte er: »Solche Dinge brauchen Zeit.«
Mehmet, der seine Augen wegen des grellen Sonnenlichts selbst hinter den Gläsern seiner Sonnenbrille zusammenkneifen musste, zündete sich eine Zigarette an und seufzte. Er hasste Krankenhäuser. Dass seine Frau und sein Schwiegervater beide als Ärzte arbeiteten, erschien ihm wie eine Ironie des Schicksals; doch dass er im Rahmen seiner Arbeit als einer der führenden Kriminalbeamten der Stadt einen geraumen Teil seiner Arbeitszeit in Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen zubrachte, entbehrte nicht einer gewissen makabren Komik.
Als er vor vielen Jahren in diesem Beruf angefangen hatte, damals noch unter seinem alten Vorgesetzten Çetin İkmen, hatte ihn die
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