Im Gewand der Nacht
Fähigkeit, die du von deiner Mutter hast« bezeichnet. Ayşe, İkmens weithin als Hexe verschrieene albanische Mutter, hatte tatsächlich ein paar sehr seltsame und beunruhigende Fähigkeiten besessen. Einen Großteil ihres Charakters hatte sie dem jüngeren ihrer beiden Söhne vererbt. Und in diesem Moment spürte İkmen ihr Vermächtnis besonders deutlich.
Doch zunächst behielt er seine Vorahnungen für sich. Er brauchte einen klaren Verstand, um auf das, was ihn am Tatort erwartete, unvoreingenommen reagieren zu können.
Vielleicht irrte er sich ja auch. Das war zwar unwahrscheinlich, aber durchaus schon vorgekommen. Und in diesem speziellen Fall hoffte er inständig, dass er mit seiner Vermutung falsch lag.
İkmens Hoffnung wich der bitteren Wahrheit, als er das Gesicht des jungen Mädchens sah. Während er noch versuchte, seine Augen an das Licht der Bogenlampe und die umliegende Dunkelheit zu gewöhnen, hockte er sich in den faulig riechenden Schlick und stöhnte leise auf, als er in ihre gebrochenen Augen blickte. Sie war so hübsch gewesen, war es immer noch.
»Sie heißt Hatice İpek«, wandte er sich mit matter Stimme an seinen Assistenten. »Sie ist siebzehn.«
»Ist sie bereits aktenkundig?«
»Nein, nein.« Widerwillig legte İkmen Hatices Kopf zurück auf den Schlickboden und erhob sich langsam. »Nein, sie ist die Freundin einer meiner Töchter. Sie lebte mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in der Wohnung uns gegenüber.«
»Nach der Art und Weise zu urteilen, wie sie gekleidet ist …«
»Wann haben Sie eine Professionelle jemals in solch einem Kleid gesehen?«, sagte İkmen, während Tepe und er die Leiche betrachteten. »Wann haben Sie überhaupt jemals eine Frau in solch einem Kleid gesehen?«
Obwohl ihre Kleidung mit Schlamm bedeckt war, konnte man auf den ersten Blick erkennen, dass Hatice sie mit größter Wahrscheinlichkeit nicht selbst gekauft hatte. Das Gewand war im Gegensatz zu dem vielen Schmuck, den sie trug, ausgesprochen fein und kunstvoll gearbeitet. Winzige Stoffrosen zierten den bis zu den Knöcheln reichenden schimmernden Satin, der in der Taille mit einem breiten Metallgürtel zusammengehalten wurde. Das tiefe Dekolleté des Kleides brachte Hatices Brüste voll zur Geltung. Um den Hals, an den Hand- und Fußgelenken sowie an jedem Finger glitzerte billiger Schmuck. Nur die Krone, die die Fahrıs zu Hatices Leiche geführt hatte, lag nicht an ihrem ursprünglichen Ort.
»Was glauben Sie, was sie hier gemacht hat?«, fragte Tepe und trat von einem Fuß auf den anderen, um nicht im Schlick zu versinken.
İkmen zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht, aber ich vermute, dass sie hier überhaupt nichts gemacht hat.« Auch er bewegte sich unruhig auf dem rutschigen Untergrund. »Ich meine, das hier unten sieht nicht gerade nach einem Ort für ein romantisches Stelldichein aus, oder?«
»Nein.«
»Aber so wie sie gekleidet ist, hat sie bestimmt auch nicht gerade die Einkäufe für ihre Mutter erledigt«, seufzte İkmen. » Ich würde sagen, dass man sie hier nur entsorgt hat, nachdem … Die Gerichtsmedizin und Dr. Sarkissian werden uns mehr sagen können, wenn sie erst einmal ihre morbiden Fähigkeiten zum Einsatz gebracht haben. Aber so wie sie daliegt, glaube ich nicht, dass man sie einfach in dieses Loch geworfen hat.« Er warf erneut einen Blick auf das tote Mädchen und wandte sich dann ab. »Irgendwie sieht es so aus, als hätte man sie sorgfältig platziert, regelrecht drapiert.«
Tepe hatte während İkmens Ausführungen die Lage der Leiche begutachtet und nickte zustimmend.
»Haben Sie aus den Leuten, die sie gefunden haben, schon irgendetwas Sinnvolles herausbekommen?«, fragte İkmen.
»Nicht viel«, meinte Tepe. »Die beiden sind bekannte Schatzsucher. Die Sorte von Leuten, die die Feuerwehr hasst. Sie wissen schon, Menschen, die sich selbst in Schwierigkeiten bringen und dann gerettet werden müssen. Die alte Dame, der das Grundstück gehört, kassiert eine Art Grabungsgebühr von ihnen. Und offensichtlich bezahlen sie sie recht großzügig.«
»Tatsächlich? Und hat diese alte Dame gestern Nacht oder heute Morgen vielleicht irgendetwas Ungewöhnliches in ihrem Garten bemerkt?«
»Sie sagt, nein«, erwiderte Tepe. »Aber wenn die Fahrıs von der Existenz dieser Zisterne wussten, dann wissen andere vielleicht ebenfalls davon. Allerdings haben unsere beiden Schatzsucher niemandem von ihrer Entdeckung erzählt.« Er grinste . »Offenbar sind sie sehr
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