Im Gewand der Nacht
zuerst die Seele. Und dann reißt sie den wertlosen Leib mit sich. Meine Brüder sind tot, und selbst meine reine Seele ist nicht fromm genug, um sie vor der Hölle zu bewahren.«
Hale Sivas schlurfte langsam in Richtung Tür, das Kopftuch fest um ihr Haar gebunden. Einen kurzen Augenblick wünschte Tepe, sie wäre tot. Undankbares altes Weib! Oh ja, für sie war es leicht, sich eine reine Seele zu bewahren, hier in diesem großartigen Haus, in dem sie wie ein Blutsauger von ihrem erfolgreichen Bruder lebte, den sie zugleich liebte und hasste. Wenn Hikmet Sivas’ Reichtum tatsächlich zum Großteil aus illegalen Geschäften stammte, dann hatte er dies unter anderem auch für Hale getan. İkmen zufolge liebte Hikmet Sivas seine Schwester; er fügte sich ihren Wünschen und war immer darauf bedacht, sie zufrieden zu stellen.
So ähnlich hatte er selbst auch für Ayşe empfunden. Er hatte sie so gern glücklich sehen wollen, dass er jetzt ihretwegen in der Klemme steckte. Doch sie hatte keine Dankbarkeit gezeigt, genau wie die alte Sivas ihren Brüdern gegenüber. Und als er ein einziges Mal seine eigenen Bedürfnisse und Phantasien ausleben wollte, hatte sie ihn zuerst richtig wild gemacht, sich dann plötzlich geziert und anschließend bei İkmen ausgeweint, der auch noch für sie Partei ergriff. So ein Scheißkerl! Wie konnte er sich überhaupt als Mann bezeichnen, wenn er offensichtlich gar nicht wusste, wie die Bedürfnisse eines richtigen Mannes aussahen, dachte Tepe. Die Tatsache blieb jedoch bestehen, dass İkmen ihm von jetzt an das Leben schwer machen würde, also musste er sich versetzen lassen, und zwar schnell. Allerdings war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um noch länger über die Sache mit Ayşe nachzusinnen. Allein der Gedanke daran, wie sie nackt, verängstigt und blutend vor ihm gelegen hatte, ließ ihn hart werden, und er konnte sich im Augenblick keine Erleichterung verschaffen. Solange Ardiç im selben Haus war, würde er sich noch nicht einmal in ein leeres Zimmer zurückziehen können, um sich selbst zu befriedigen – das wäre einfach zu riskant.
Ardiç beobachtete ihn; davon war er überzeugt. Er hatte zuerst İkmen und dann İskender von dem Fall abgezogen und schließlich persönlich die Leitung übernommen. Doch ihn, Tepe, hatte er dabehalten – einige junge Wachtmeister, dazu Yalçin, den alten Dummkopf, und ihn. Was hatte Ardiç vor? Und warum taten sie alle nichts anderes, als hier im Haus zu sitzen und zu warten? Im Verlauf ihrer kleinen Moralpredigt hatte Hale Sivas einen einzigen vernünftigen Satz von sich gegeben, und zwar, dass ihre Brüder wahrscheinlich tot waren. Die Leute, die Kaycee ermordet hatten, fackelten nicht lange, und wenn Hikmet oder Vedat Ärger mit ihnen hatten, steckten sie mit Sicherheit bis über beide Ohren im Schlamassel. Falls die Mafia wirklich an der Sache beteiligt war – wovon man in gewissen Kreisen ausging, was den Mord an Kaycee betraf –, dann wagte Tepe sich kaum vorzustellen, was mit den Sivas-Brüdern geschehen könnte.
»Tatsache ist doch, dass nach Vedat Sivas’ Verschwinden İsak Çöktin und ein paar andere Wachtmeister fast einen ganzen Tag damit verbracht haben, den Yıldız-Palast und seine Umgebung zu durchkämmen.« İkmen erhob sich und ging unruhig im Wohnzimmer auf und ab, wie üblich, wenn er einen Gedanken weiterentwickeln wollte. »Abgesehen von den Kellerräumen liegen sämtliche Räume, die sie durchsucht haben, oberhalb der Erdoberfläche.«
»Das ist nur logisch«, erwiderte Süleyman, »wenn man einmal von der dummen alten Legende mit den geheimen unterirdischen Gängen absieht.«
İkmen runzelte die Stirn und hielt inne. »Davon habe ich gehört. Das würde erklären …«
»Ach, jetzt komm schon, Çetin!« Süleyman schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich weiß zwar, dass Abdülhamit unter Verfolgungswahn litt, aber dass er aus Furcht vor Attentaten ständig seinen Aufenthaltsort wechselte und dazu Geheimgänge nutzte, ist die Erfindung von Sensationsjournalisten. Wenn es diese Tunnel gäbe, hätten die Palastangestellten Çöktin und seine Männer doch bestimmt darauf aufmerksam gemacht.«
»Sofern sie selbst von deren Existenz wissen«, wandte İkmen ein.
»Natürlich würden sie davon wissen!«
»Wenn die Gänge aber schon vor vielen Jahren zugemauert wurden …«
»Um dann auf wundersame Weise ausgerechnet von Schiwkow wieder entdeckt zu werden?« Süleyman hob abwehrend die Hände. »Ich bitte
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