Im Gewand der Nacht
wurden sämtliche konstruktiven Ansätze bei unseren Ermittlungen im Keim erstickt.«
Ein paar Minuten saßen sie schweigend da und dachten über die Konsequenzen dieser Vermutungen nach.
Nach einer Weile kehrte Süleyman vom Balkon zurück, legte İkmens Mobiltelefon neben den Aschenbecher und setzte sich wieder.
İkmen sah ihn mit müden, geröteten Augen an und fragte: »Und?«
Süleyman zuckte die Achseln. »Du hattest Recht, und ich lag erstaunlicherweise falsch. Es gibt dort tatsächlich mehrere Tunnel oder eher unterirdische Gänge, die der Sultan bauen ließ, um sicher von einem Teil des Palasts in den anderen zu gelangen. Mein Vater war damals mit seinem Onkel in einem der Tunnel unter dem Hauptgebäude des Palastes. Er meinte, einige der anderen Gänge seien bereits zugemauert gewesen.«
»Und was ist mit dem Malta Köşkü?«
»Er weiß es nicht. Aber genau das ist der springende Punkt.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte İskender.
»Niemand weiß etwas darüber«, erwiderte Süleyman. » Abdülhamit beschäftigte beim Bau des Palastes viele verschiedene Architekten und Handwerker. Die Männer arbeiteten in Schichten, und der Umgang miteinander war ihnen untersagt. Lediglich der Sultan kannte den gesamten Grundriss. Wir haben nur einen einzigen Hinweis: die Tatsache, dass der Malta Köşkü eine Zeit lang als Gefängnis für Murat dien te, den alkoholabhängigen Bruder des Sultans. Laut Aussage meines Vaters genoss Abdülhamit es, sich hin und wieder am Unglück seines älteren Bruders zu ergötzen. Also könnte es einen Gang zwischen dem Palast und dem Pavillon geben. Und falls es ihn wirklich gibt, verläuft er möglicherweise unterhalb der Stelle, an der Sie Schiwkow plötzlich auftauchen sahen, Metin.«
»Und sowohl Hikmet als auch der Mann, der Hikmets Frau umgebracht hat, kannten die alten Legenden, die sich um Abdülhamit und den Yıldız-Palast spinnen«, sagte İkmen.
»Tatsächlich?«, fragte Süleyman. »Woher weißt du das?«
»Na ja«, erwiderte İkmen, »derjenige, der Kaycees Kopf ihrem Ehemann übersandte, befestigte an der Kiste eine überaus passende Botschaft, die direkt auf eine dieser Legenden anspielte.«
»Ja«, rief İskender aufgeregt, »das stimmt! Sie sagten damals, Sivas habe wahrscheinlich allein aufgrund der Botschaft gewusst, was sich in der Kiste befand.«
»Es sieht ganz danach aus, oder?«, sagte İkmen leise. Er lehnte den Kopf gegen die Rückenlehne und schloss die Augen. »Es gibt eine Verbindung zwischen dem Yıldız-Palast und den Brüdern Sivas. Außerdem ist Schiwkow gestern dort aufgetaucht. Stellt sich nur noch die Frage, welche Verbindung besteht zwischen Schiwkow und den Gebrüdern Sivas?«
20
Als Süleyman und İskender gegangen waren, wollte Hülya mit ihrem Vater über Berekiah Cohen reden, aber die Türklingel kam ihr zuvor.
Im Treppenhaus stand eine kleine Frau mittleren Alters mit den rotesten Haaren, die Hülya je gesehen hatte. Sie wolle mit Çetin İkmen sprechen, sagte sie, woraufhin Hülya sie ins Wohnzimmer führte.
Auf İkmens Gesicht spiegelte sich echte Überraschung, als er die Frau erkannte. »Sofia Vanezis!«
»Du hast 1959 meine Brüste angefasst«, erwiderte Sofia, woraufhin Hülya schockiert den Raum verließ und die Tür hinter sich zuzog.
»Ich …«
»Fräulein Yümniye Heper hat mir gesagt, dass ich dich besuchen soll.« Sofia ließ sich schwerfällig in einen Sessel fallen, der bei der Tür stand. »Fräulein Muazzez Heper ist tot.«
»Ja, ich weiß.« Nervös rieb İkmen sich mit der Hand übers Kinn; er war es nicht gewohnt, dass jemand auf diese Weise mit der Tür ins Haus fiel. »Möchtest du vielleicht ein Glas Tee?«
»Fräulein Muazzez hat immer gesagt, dass ich nichts verraten soll, und das hab ich auch nicht gemacht«, fuhr Sofia fort. »Aber jetzt hat Fräulein Yümniye mir erklärt, dass ich doch was sagen muss. Also mach ich das auch, aber ich sag nicht alles. Fräulein Muazzez hat gesagt, dass ich niemals alles verraten soll. Ich erinnere mich aber an alles.«
»Tatsächlich?« İkmen ließ sich auf der Couch gegenüber seiner Besucherin nieder und zündete sich eine Zigarette an. Mit ihren geschwollenen Beinen und dem fußballgroßen Bauch ähnelte sie nicht mehr im Geringsten dem Mädchen, dessen Brust er vor so vielen Jahren ganz kurz berührt hatte. Nur ihr feuerrotes Haar und die monotone, völlig emotionslos wirkende Sprechweise erinnerten noch an früher.
»1965. Da war ein Raum ohne
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