Im Gewand der Nacht
bekommen!«
»Ich bin sicher, dass es genau so ausgesehen hat, Metin«, meinte Süleyman.
»Ich sage Ihnen, Mehmet«, fuhr İskender aufgebracht fort, »es war genau wie in einer Show, die Belkis und ich einmal in Paris gesehen haben. David Copperfield, der amerikanische Zauberer. In einem Augenblick war er noch da, und im nächsten …« Er schnippte mit den Fingern.
»Ja, aber …«
»Nein, nicht.« İkmen, der einen Moment lang schweigend nachgedacht hatte, hob die Hand, um Süleyman zu unterbrechen. »Egal, was wir denken, Metin hat das Geschilderte wirklich erlebt, das höre ich an seinem Tonfall. Abgesehen davon kenne ich ihn als ehrlichen Mann.«
»Vielen Dank.«
»Wenn das ganze Leben, wie manche Menschen glauben, nichts als eine Illusion ist, woher nehmen wir dann das Recht zu entscheiden, was wahr ist und was nicht?« İkmen lächelte. »Wie hat Sherlock Holmes es noch formuliert? Wenn man alle logischen Erklärungen ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, ganz egal, wie unwahrscheinlich es klingt, die Lösung sein – oder in unserem Fall die Wahrheit.«
»Du meinst also«, sagte Süleyman, »wir sollen ernsthaft davon ausgehen, dass Schiwkow aus heiterem Himmel dort aufgetaucht ist?«
»Oder dass es zumindest den Anschein hatte.« İkmen schaute in die verwirrten Gesichter seiner Kollegen. »Irgendwelche Vorschläge?«
Während der letzten beiden Tage hatte er zwei schwere Schläge einstecken müssen: zum einen İkmens Drohungen und zum anderen die Nachricht, dass der als Ratte bekannte Spitzel tot war. Dabei war vor allem die zweite Nachricht nur dazu bestimmt gewesen, ihn einzuschüchtern. Der Anrufer – Tepe hatte seine Stimme nicht erkannt – hatte die Tat in allen grausigen Details beschrieben. Wie man Ratte die Ohren abgeschnitten hatte und dann andere, empfindlichere Körperteile … natürlich ergänzt um den Satz: »Das passiert mit denjenigen, die uns hintergehen wollen.« Als ob man ihn daran hätte erinnern müssen. Und als ob er irgendetwas damit zu tun gehabt hätte! Der Mann, für dessen Schutz man ihn gut bezahlt hatte, Hassan Şeker, war tot. An diesem Punkt hätte es eigentlich vorbei sein müssen. Aber es war noch lange nicht vorbei, und wie Orhan Tepe nur allzu gut wusste, hatte er sehr wohl etwas damit zu tun, und das lag einzig und allein an seiner unersättlichen Geldgier. Denn wer einmal mit denen Geschäfte gemacht hatte, den ließen sie nie wieder los. Warum hatte er Ayşe auch unbedingt beeindrucken wollen? Und warum war er, wie İkmen ganz genau wusste, nur so krankhaft eifersüchtig auf Süleyman?
Hassan Şeker hatte es mehr als ein Jahr lang mit Hatice İpek getrieben. Er hatte das Mädchen wirklich gern gehabt, und Tepe glaubte ihm, als er beteuerte, sie nicht getötet zu haben. Şeker hatte gewusst, wer für ihren Tod verantwortlich war, die Namen aber nicht preisgegeben. Mit Sicherheit konnte Tepe nur sagen, dass es weder Ekrem noch Celal Müren gewesen waren. Die beiden fungierten, er hatte das inzwischen begriffen, nur als Botenjungen – für wen, wusste er nicht. Doch das sollte er bald herausfinden.
Offensichtlich brauchte man ihn für irgendetwas: Ekrem hatte Tepe ausgerichtet, dass irgendwann im Laufe des Wochenendes seine Anwesenheit erforderlich sein würde. Tepe schaute hinüber zu der alten Frau, die augenscheinlich in ihrem Sessel eingeschlafen war, und verfluchte im Stillen sein Pech. Eigentlich hatte er bis Sonntagmorgen hier in Kandilli Dienst. Was sollte er nur tun, wenn man ihn vorher benötigte?
»Ich würde vorschlagen, dass Sie den Koran zu Rate ziehen«, sagte Hale Sivas und öffnete die Augen. »Ich sehe Ihrem Gesicht an, dass Ihr Geist verwirrt ist. Doch alle Antworten auf alle Fragen finden sich auf den Seiten des Heiligen Koran.«
Tepe versuchte zu lächeln: »Vielen Dank, Fräulein Sivas, ich werde daran denken.«
Die alte Frau richtete sich auf und musterte Tepe eindringlich. Dann schüttelte sie traurig den Kopf. »Nein, das werden Sie nicht tun«, sagte sie. »Meine Brüder haben meinen Ratschlägen auch immer viel zu bereitwillig zugestimmt, genau wie Sie. Doch ich bin mir sicher, dass keiner von beiden das heilige Buch in den letzten Jahrzehnten auch nur angerührt hat.«
»Wenn wir Ihre Brüder gefunden haben, können Sie sie ja danach fragen.«
»Nein.« Sie umfasste die Armlehnen fester und drückte sich aus dem Sessel hoch. »Meine Brüder sind tot. Wenn man sich mit schlechten Menschen umgibt, verfault
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