Im Gewand der Nacht
nur einen Weg, wie Metin seine schwierige Kindheit in U mraniye bewältigen konnte: Er musste sich seine Erlebnisse von der Seele schreiben und dann ein für alle Mal vergessen. Schließlich war er bereits ein erfolgreicher Mann. Für einen Jungen aus einem Viertel, in dem es kein fließendes Wasser gab und in dem die Müllhalden ständig schwelten und gelegentlich sogar explodierten, hatte er es weit gebracht: Er hatte sich fortgebildet, war ziemlich schnell die Karriereleiter hochgeklettert und sah einfach zum Anbeißen aus. Warum er immer noch versuchte, sich vor diesen Leuten zu beweisen, die ungebildet, schmutzig und teilweise kriminell waren, konnte sie einfach nicht nachvollziehen. Aber andererseits wusste sie auch sonst wenig von dem, was ihren Mann tatsächlich beschäftigte.
Metin blickte nachdenklich auf den Weg, der über den Hügel zum Restaurant führte. Mehrere Pärchen und Familien kamen keuchend und schwitzend die Anhöhe herauf, um in der malerischen Umgebung des Malta Köşkü zu Abend zu essen. Es waren allesamt gut gekleidete, gepflegte Menschen, die – genau wie er – wussten, dass der prächtige, im italienischen Stil errichtete Pavillon, vor dem er jetzt saß, einst als Gefängnis für Murat V. diente – den armen Sultan, der viel getrunken und wenig regiert hatte. Niemand in U mraniye hätte das gewusst. Niemand in U mraniye besaß anständige Kleidung, es sei denn, sie war gestohlen. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er in den schwelenden Müllhalden nach Winterschuhen gewühlt hatte. Das würde er niemals vergessen. So etwas vergaß man einfach nicht. Die Erinnerung kehrte immer wieder zurück, tauchte plötzlich aus dem Nichts auf – so wie der Mann mit dem dichten blonden Haar, das in der untergehenden Sonne leuchtete. Plötzlich stand er auf dem Weg vor Metin İskender. Der Inspektor erstarrte, und einen Moment lang wurde es ganz still um ihn herum. Wie gebannt blickte er zu dem Mann hinüber, und er erwachte erst aus seiner Erstarrung, als Belkis sich seinem Gesicht näherte und rief: »Metin! Metin, was hast du? Liebling!«
19
Mehmet Süleyman hätte es wissen müssen: Niemand schaute bei Çetin İkmen vorbei und ging nach einer halben Stunde wieder. Was als kleiner morgendlicher Freundschaftsbesuch gedacht war – Süleyman hatte sich für das Geschenk bedanken wollen, das İkmen seinem Sohn gemacht hatte –, entwickelte sich zu einem ausgedehnten Gespräch.
»Eins verstehe ich nicht«, meinte Süleyman, nachdem er ein zweites Glas Tee getrunken und sich eine weitere Zigarette angesteckt hatte. »Wenn dieser Harem tatsächlich existiert, wieso haben wir nicht schon vorher davon erfahren?«
»Offensichtlich haben sie lange Zeit nur Mädchen aus besseren Kreisen benutzt«, erwiderte İkmen, »und die würden niemals etwas preisgeben. Frauen wie die Heper-Schwestern bringen sich lieber um, als zuzugeben, dass sie sich prostituiert haben.«
»Aber das erklärt den Fall Hatice İpek nicht.«
»Nein.« İkmen steckte sich eine Maltepe an. »Aber wenn Fräulein Yümniye und Ratte mit ihren Vermutungen über den Wechsel an der Spitze der Organisation Recht haben, dann passt Hatice İpek ins Bild. Denn ich kann mir kaum vorstellen, dass auch nur irgendein Mitglied der in Frage kommenden Familien eine Ahnung hat, worin der Unterschied zwischen einer osmanischen Prinzessin und irgendeinem hübschen Kind oder einem billigen gecekondu- Mädchen besteht. Abgesehen davon: Wie viele junge Mädchen aus dieser alten Gesellschaftsschicht gibt es heute noch?«
»Hmmm.« Süleyman runzelte nachdenklich die Stirn. »Wobei man für einen richtigen Harem vornehme Frauen brauchen würde. So wie ich die Sache sehe, haben diese Leute ursprünglich eine osmanische Phantasie verkauft: gebildete Töchter aus höchsten Kreisen, die für viel Geld Ausländern und vielleicht sogar Türken zur Verfügung gestellt wurden. Hatices Tod deutet allerdings darauf hin, dass sich auch der Kundenkreis verändert hat.«
İkmen schüttelte zweifelnd den Kopf. »Das glaube ich nicht«, sagte er. »Nichts hätte die Familien davon abgehalten, selbst ein ähnliches Geschäft aufzuziehen, wenn sie es gewollt hätten. Fräulein Yümniye und Ratte zufolge kamen die Kunden aus wohlhabenden und einflussreichen Kreisen, deshalb glaube ich, dass die Familien die Organisation übernommen haben, um Zugang zu dieser Klientel zu erlangen.«
Süleyman beugte sich in seinem Sessel vor und stützte nachdenklich das Kinn in die
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