Im Gewand der Nacht
Fenster«, sagte sie, »mit goldenen Stoffen an den Wänden, Seidenkelims auf dem Boden, einem sehr großen Bett, glänzender Bettwäsche.«
»Das klingt nach dem Harem.«
»Ein Ort für Sex. Da war ein Mann.«
»Und erinnerst du dich …«
»Ich darf dir nicht sagen, wer es war. Fräulein Muazzez hat gesagt, ich darf es niemals verraten. Fräulein Muazzez hat alles organisiert, damit ich Geld von dem Mann kriege. Er hat mir gesagt, dass ich vergessen soll, was in dem Zimmer mit den goldenen Stoffwänden passiert ist, und das hab ich auch. Er hat mir etwas Geld gegeben. Dann bin ich gegangen. Ich war einunddreißig Minuten dort. Genau einunddreißig Minuten.«
Sofia Vanezis war schon immer sehr merkwürdig gewesen. Einige Leute, wie etwa Yümniye Heper, meinten, sie sei etwas langsam. Doch das entsprach nicht der Wahrheit, wie İkmen jetzt feststellen konnte. Sofia Vanezis war gescheit, wachsam und aller Wahrscheinlichkeit nach autistisch. Falls er mit dieser Einschätzung richtig lag, konnte er vielleicht herausfinden, wer der Mann gewesen war; er durfte sie nur nicht nach ihrer Meinung oder direkt nach seinem Namen fragen. Irgendwo hatte er einmal gelesen, autistische Menschen könnten nicht lügen; im Grunde seien sie Sklaven der Wahrheit und nicht in der Lage, Dinge zu erfinden.
»Dieser Mann …«
»Er hatte schwarze Haare und braune Augen. Er trug ein blaues Hemd und eine schwarze Hose. Ich weiß seinen Namen, verrate ihn dir aber nicht. Ich hab ihn einmal in einem Film gesehen, das war vor 1965. Mama hat mich 1959 ins Kino mitgenommen. Ich weiß nicht, wie der Film hieß. Ich kann nicht lesen. 1959. Als du meine Brüste angefasst hast. September. Ich hab dich dazu aufgefordert. Ich hab es dir erlaubt. Das war ein Donnerstag.«
Mühsam erhob sie sich. Anscheinend wollte sie gehen.
İkmen sprang auf und versperrte die Tür mit seinem Körper. Bei dem Mann, diesem Haremkunden, dem Sofia zu Diensten gewesen war, handelte es sich um einen Filmschauspieler.
»Sofia«, begann er schnell, damit sie ihn nicht unterbrechen konnte, »dieser Mann, den du 1959 im Kino gesehen hast, wer war er in dem Film? Ich meine nicht seinen richtigen Namen, sondern die Person, die er spielte. Kannst du dich daran noch erinnern?«
Sie sah ihn vollkommen ausdruckslos an.
»Ich erinnere mich an alles«, sagte sie. »Er war Bekir, ein sehr schlimmer General.«
Bei ihrem ersten Gespräch hatte Ahmet Sılay den General als »böse« bezeichnet; und er hatte gesagt, Hikmet Sivas’ schauspielerische Leistung in dem Film sei furchtbar schlecht gewesen.
»Papa?«
Hülya war ins Wohnzimmer gekommen und hatte sich auf das Sofa gesetzt, was İkmen gar nicht aufgefallen war.
Müde blickte er auf und lächelte dann. »Hülya.«
»Wer war diese Frau?«
İkmen seufzte. »Ich möchte im Augenblick wirklich nicht darüber sprechen, Hülya.«
»Ja, aber sie hat gesagt …«
»Ich weiß, was sie gesagt hat«, erwiderte er gleichmütig. »Und nur zu deiner Information: Ich war damals zwölf und sie schätzungsweise sechzehn. Jungen berühren Mädchen, und Mädchen berühren Jungs. So was passiert nun mal. Menschen, vor allem junge Menschen, entwickeln von Zeit zu Zeit Gefühle füreinander.«
»Ja, das weiß ich.« Sie blickte auf ihre Hände, die sie nervös im Schoß verschränkt hielt. »Hör mal, Papa, Berekiah Cohen hat mich ein paarmal zur Arbeit begleitet, und wir waren zusammen bei Dr. Halman im Krankenhaus.«
»Ja, Hülya, das weiß ich. Was ist damit?«
Das Mädchen sah ihn bestürzt an. »Das weißt du?«
»Ja.« Warum glaubten Teenager eigentlich immer, ihre Eltern bekämen von ihrem Leben nicht das Geringste mit? »Ihr seid Freunde«, sagte er. »Wo liegt das Problem?«
»Also, Herr Cohen, Berekiahs Vater, möchte nicht, dass wir uns weiterhin treffen!«
»Aber ihr seid doch nur Freunde, oder?« İkmen beobachtete sie genau, um zu sehen, wie sie reagierte. Hülya senkte pflichtschuldigst den Blick. »Ja.«
»Dann gibt es doch auch überhaupt kein Problem, oder?«
»Nein.« Sie schaute wieder hoch und sah ihn herausfordernd an. »Aber wenn Berekiah und ich Gefühle füreinander entwickeln sollten …«
»Das wäre dann allerdings etwas anderes«, sagte İkmen. » Du bist noch sehr jung, und als dein Vater würde ich von Berekiah verlangen, dass er dich immer mit Respekt behandelt. Aber das würde er sicher tun.«
»Dann hättest du also nichts gegen ihn, obwohl er Jude ist?«
»Nein.« İkmen beugte sich vor
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