Im Gewand der Nacht
Hände. »Aber warum? Warum sollten diese Männer ganz gewöhnliche Mädchen akzeptieren, wenn sie zuvor das Original gehabt haben? Verkäuferinnen oder Arbeiterinnen wüssten doch gar nicht, wie sie sich zu benehmen hätten. Außerdem müssen einige der ursprünglichen Kunden inzwischen ziemlich alt sein, richtig?«
»Alt, reich und mächtig«, erwiderte İkmen mit einem feinen Lächeln. »Heute früh habe ich darüber nachgedacht, ob nicht auch Erpressung in Frage käme.«
Plötzlich klingelte es an der Wohnungstür, und die beiden Männer blickten in Richtung Diele.
»Hülya wird aufmachen«, meinte İkmen, rief zur Sicherheit aber noch einmal ihren Namen.
Süleyman war mit den Gedanken noch bei ihrem Gespräch und seufzte. »Ich verstehe auch nicht ganz, wie die Familien überhaupt von dem Harem erfahren haben, schließlich handelte es sich angeblich doch um ein gut gehütetes Geheimnis.«
İkmen, der trotz einiger Stunden Schlaf in der letzten Nacht immer noch völlig übermüdet war, zuckte nur die Achseln.
Die Wohnzimmertür wurde geöffnet, und Hülya kam herein.
»Papa, Inspektor İskender ist hier.« Sie trat zur Seite und bat den jungen Mann ins Wohnzimmer.
Sowohl İkmen als auch Süleyman wollten sich erheben, doch İskender bedeutete ihnen, sitzen zu bleiben.
»Nehmen Sie Platz, Metin«, sagte İkmen. »Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?«
»Das wäre nett. Vielen Dank.«
İskender wirkte nervös; er knetete seine Hände wie jemand bei einem wichtigen Vorstellungsgespräch.
»Würdest du dich bitte darum kümmern, Hülya?«, wandte İkmen sich an seine Tochter.
»Sofort, Papa.«
Es war wirklich verblüffend, wie viel fügsamer und freundlicher Hülya sich benahm, seit sie sich häufiger mit Berekiah Cohen traf. Balthazar mochte über die unterschiedlichen religiösen Hintergründe der Kinder sagen, was er wollte – wenn das das Resultat war, konnte es İkmen nur recht sein; abgesehen davon machte er sich wegen dieses »Problems« ohnehin keine Sorgen.
Nachdem sie sich erkundigt hatte, ob ihr Vater und Süleyman ebenfalls noch ein Glas Tee wollten, verließ Hülya den Raum.
»Also, welchem Umstand verdanke ich die Ehre Ihres Besuchs, Metin?«, erkundigte sich İkmen und fügte hinzu: »Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«
»Ich habe Schiwkow gesehen«, erwiderte İskender.
»Ich habe zwar gehört, dass er noch lebt«, sagte Süleyman, » aber ich wusste nicht, dass er wieder in der Stadt ist.«
»Oh doch, er ist hier.« İskender holte eine Schachtel Zigaretten aus seiner Tasche.
»Sind Sie sicher, dass es Schiwkow war?«, fragte İkmen.
İskender zündete sich eine Zigarette an. »Ich habe ihn fast sechs Monate lang beobachtet«, sagte er. »In seiner Akte befinden sich Hunderte von Fotos, die ihn in allen möglichen Situationen zeigen. Manchmal sehe ich sie mir auch jetzt noch an – wie um mich daran zu erinnern, in welcher Gestalt das Böse unter uns lebt. Er war es.« İskender blickte nach unten auf seine Zigarette. İkmen und Süleyman tauschten besorgte Blicke.
»Wo haben Sie ihn gesehen, Metin?«
In diesem Augenblick kam Hülya herein und brachte den Tee. Als sie das Zimmer wieder verlassen hatte, antwortete İskender: »Also, das war das eigentlich Erschreckende: Er kam einfach aus dem Nichts.«
»So ist er immer gewesen«, meinte Süleyman. »Immer dann, wenn man nicht mit ihm rechnete, tauchte er plötzlich auf.«
»Das meine ich nicht, Mehmet.« İskender schlug die Hände vors Gesicht. Als er sich wieder gefasst hatte, sagte er: »Ich weiß ja, dass es verrückt klingt, aber gestern Abend haben meine Frau Belkis und ich im Malta Köşkü gegessen. Wir hatten einen Tisch im Freien, und irgendwann habe ich zu dem Weg hinübergeschaut, der über die Hügelkuppe zum Pavillon führt. Ich sah Leute, die nach dem Aufstieg eine Verschnaufpause einlegten – und plötzlich war da Schiwkow. Er stand mitten auf dem Weg, als wäre er aus einer Falltür im Erdboden gesprungen.«
»Vielleicht hatte er hinter den Leuten gestanden«, meinte İkmen.
»Ganz sicher nicht.«
»Möglicherweise haben sie Ihnen den Blick verstellt.«
»Das haben sie nicht!« İskender hob abwehrend die Hand. »Das ist es ja gerade! In einem Augenblick standen die Leute dort ganz allein, und im nächsten Augenblick war der Bulgare hinter ihnen.« Mit langsam aufkeimender Panik schaute er in die skeptischen Gesichter seiner Kollegen. »Belkis kann es bestätigen. Sie dachte, ich hätte einen Herzinfarkt
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