Im Gewand der Nacht
den mit Teppich ausgelegten Korridor hinein und blieb dann stehen. Der Boden darunter war aus Marmor, würde also keinerlei Geräusch verursachen. İkmen rief sich ins Gedächtnis, wer hinter der Tür am Ende des Flurs zusammensaß und ging dann rasch auf einen der Nebenräume zu.
Schweißgebadet suchte er den Türbereich nach einem Lichtstrahl ab. Er fand keinen. Heiseres Gelächter drang aus dem erleuchteten Raum hinter dem Portal und veranlasste ihn, hastig einzutreten und die Tür hinter sich zu schließen. Unversehens fand er sich in einem vollkommen dunklen Raum wieder. Er war jedoch nicht allein.
»Glaubt mir, das kaufen die euch nicht ab. Am Ende bringen sie euch alle um.«
Der Tonfall war amerikanisch, die Worte Englisch, allerdings mit einem leichten türkischen Akzent.
Obwohl seine Hände ihm am liebsten den Dienst verweigert hätten, zog İkmen seine Stiftlampe aus der Tasche und schaltete sie ein. Im ersten Moment hatte er geglaubt, die Stimme zu kennen, aber er konnte sie nicht mit der Gestalt in Einklang bringen, die an einen der großen, alten Heizkörper gefesselt war. Der Mann war blutverschmiert, und offenbar hatte man ihm einen Teil seiner Haare mit der Wurzel ausgerissen, so dass er eher einem rätselhaften modernen Kunstwerk ähnelte als einem Menschen. Nur die außergewöhnlichen, funkelnden Augen sagten İkmen, dass er die Stimme richtig erkannt hatte.
»Herr Sivas?«
»Und was ist Ihre spezielle Foltermethode?«, fragte Hikmet Sivas schneidend.
»Herr Sivas, ich bin es«, antwortete İkmen auf Türkisch. »Inspektor İkmen.«
Er ging neben dem zusammengesunkenen Mann in die Hocke. »Was hat man mit Ihnen gemacht?«
Er versuchte die Fesseln zu lösen. Die großen dunklen Augen sahen zu ihm auf. »Ist das ein Trick?«
»Nein! Herr Sivas, warum sind Sie hier?«
»Ich bin gekommen, um den Mann zu töten, der meine Frau ermordet hat. Aber jetzt«, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu, »wird er mich wohl töten.«
»Im Raum nebenan findet eine Versammlung statt. Einige der Männer sind Kriminelle. Und einer meiner Beamten ist auch dabei.« İkmen sah Sivas in die geschwollenen Augen, deren Wimpern blutverklebt waren. »Ich will wissen, warum.«
Hikmet Sivas begann zu lachen. İkmen presste ihm die Hand auf den Mund mit den eingeschlagenen Zähnen. »Nicht so laut!«, zischte er.
Als Hikmet Sivas sich wieder beruhigt hatte, nahm İkmen die Hand von seinem Mund und machte sich erneut an den Fesseln zu schaffen.
»Also?«
»Sie sind alle nur meinetwegen hier«, sagte Sivas. »Ich habe immer schon gern im Mittelpunkt gestanden.«
İkmen runzelte die Stirn und befreite Sivas’ Handgelenk von dem Strick.
»Ich wollte Filmstar werden.«
»Das ist Ihnen ja auch gelungen.«
»Aber nur, weil ich mir den Ruhm erkauft habe«, stellte Sivas richtig. »Ich habe die Creme der türkischen Mädchen, ganz zu schweigen von meinem Selbstwertgefühl, an eine Gruppe einflussreicher sizilianisch-amerikanischer Gentlemen verkauft, die mich im Gegenzug zum Star gemacht haben. Ich weiß, dass Sie eines der Kostüme gesehen haben, die die Mädchen tragen mussten; Muazzez Heper hat es mir erzählt. Muazzez und Yümniye haben sämtliche Kostüme für meine Mädchen gemacht.«
İkmen erstarrte mitten in der Bewegung und richtete sich auf. »Der Harem. Sie sind dafür verantwortlich?«
»Ja, ich habe damit angefangen. Es war meine Idee. Irgendein mieser kleiner Neapolitaner – der einzige Manager in Hollywood, der mich bei meinem ersten Aufenthalt dort überhaupt in sein Büro ließ – erzählte mir damals, an der Türkei würde die Leute nur eines interessieren, nämlich die Harems. Er hatte gelesen, Odalisken würden ihren Gebietern ohne ein Wort jeden Wunsch erfüllen. Und er machte mir klar, dass ich als Türke für ihn vollkommen wertlos sei; Valentino und die ganze Orientwelle sei passé. Wenn ich allerdings einen Harem kennen würde …«
»Das konnten Sie doch gar nicht. Niemand kannte Anfang der sechziger Jahre einen Harem, es gab einfach keine.« Über so viel Ignoranz konnte İkmen nur den Kopf schütteln.
»Nein, natürlich nicht, deshalb musste ich ja einen gründen. In der Anfangszeit waren es noch echte osmanische Damen. Verzweifelte, verarmte Aristokratinnen«, erzählte Sivas, während İkmen sein anderes Handgelenk befreite. »Ich dachte, ich müsste das nur ein einziges Mal machen. Ich fuhr nach Hause, arrangierte alles und lud den Neapolitaner zu einem Besuch in unser
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