Im Gewand der Nacht
zurück an die Arbeit. Gute Nacht, Dr. Halman.« Und bevor sie antworten konnte, legte Okazin auf.
Mehmet war verletzt. Aber wie war das passiert? Dafür gab es zahllose Möglichkeiten, wie Zelfa wusste. Ihr Mann arbeitete schließlich als Polizist in einer der bevölkerungsreichsten und hektischsten Metropolen der Welt; ethnische Konflikte und Drogenprobleme heizten die spannungsgeladene Atmosphäre noch weiter an. Allein schon der Alltag in dieser verdammten Stadt war stressig genug: überfüllte Busse, verstopfte Straßen, die stets lauernde Gefahr eines Erdbebens. Und dann war da noch İkmen. Mehmet war mit ihm unterwegs gewesen, irgendwo, um eine nicht näher beschriebene Aufgabe zu erledigen. An sich war daran nichts Ungewöhnliches, doch der ältere Kollege neigte dazu, sich und andere in unangenehme Situationen zu bringen. So sehr Zelfa İkmen auch schätzte, er machte sie wütend – jeder, der ihr Mehmets Aufmerksamkeit entzog, machte sie wütend. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie blickte instinktiv durch die Dunkelheit zu der Tür des kleinen Zimmers hinüber, in dem Yusuf İzzeddin schlief.
»Ich hoffe, dass es nicht das ist, was ich denke«, sagte İkmen und sah die beiden jungen Leute auf dem Sofa streng an.
Hülya richtete sich auf, die Augen so groß und leuchtend wie die eines Tieres, das von einem Autoscheinwerfer erfasst wird.
»Papa!«
»Höchstpersönlich«, sagte ihr Vater, ließ sich in einen Sessel fallen und rieb sich müde die Stirn.
»Du siehst furchtbar aus«, stellte Hülya fest und rückte dabei so schnell und unauffällig wie möglich von Berekiah Cohen ab.
»Ja«, erwiderte İkmen knapp.
»Was …«
»Ich habe keine Lust zu erörtern, wo und mit wem ich den Abend verbracht habe«, sagte er. »Dagegen interessieren mich die Einzelheiten deines Abends mit Herrn Cohen brennend.«
Sein harter Blick traf auf Berekiahs Rehaugen.
»Çetin Bey …«
»Ich hab Berekiah gebeten vorbeizukommen, als du nicht nach Hause kamst«, warf Hülya schnell ein. »Ich hab versucht, dich auf dem Handy zu erreichen, aber das war ausgeschaltet. Dann hab ich Berekiah angerufen, weil ich mir Sorgen um dich gemacht hab und nicht alleine sein wollte. Ich war noch nie alleine, und es gefällt mir nicht.«
İkmen seufzte. Bei Allah, er war müde, müde und verwirrt, und es war nicht zu leugnen, dass auch er Angst hatte. Die Leute im Palast, wer immer sie gewesen sein mochten, hatten alles sauber hinterlassen, doch er kannte den Geruch von Blut, und der hatte schwer in der Luft gehangen. All diese Männer – Gangster, Polizisten, Vedat Sivas – waren verschwunden, und zurückgeblieben war nur der beißend metallische Geruch nach Blut …
»Ich darf also davon ausgehen, dass dein Bruder Bülent nicht zu Hause ist?«, fragte İkmen und wandte sich wieder dem sich abzeichnenden zweiten Albtraum des Abends zu. Hülya und Berekiah allein im Dunkeln auf dem Sofa, und dazu die unverkennbaren Kussgeräusche, die an sein Ohr gedrungen waren, bevor er das Licht einschaltete.
»Er ist zu Sami gegangen«, erwiderte Hülya. »Schon vor Stunden. Wahrscheinlich hat er gedacht, dass du früher zurück sein würdest. Obwohl man nicht gerade behaupten kann, dass du in letzter Zeit oft hier warst.«
»Wenn du«, sagte İkmen, jetzt an Berekiah gewandt, »die Lage meiner Tochter ausgenutzt hast …«
»Ganz bestimmt nicht! Ich schwöre, Çetin Bey!«
»Das hoffe ich auch, Berekiah, denn sonst wären dein Vater und ich zutiefst von dir enttäuscht.«
»Wir haben nicht miteinander geschlafen!«, fauchte Hülya mit empörter Miene. »Aber bloß, weil Berekiah gesagt hat, dass wir es nicht tun sollten!«
»Hülya!«
»Nein, er soll es ruhig wissen!«, herrschte sie Berekiah an und fuhr, an ihren Vater gewandt, fort: »Ich wollte es, aber er hat gemeint, es sei falsch und wir sollten noch warten. Worauf, weiß ich allerdings nicht, weil ja sowieso niemand will, dass wir zusammen sind.«
»Hülya …«
»Und außerdem hatte ich wirklich Angst, Papa. Du hast die Mörder von Hatice noch immer nicht gefasst, und ich war hier ganz alleine!«
»Ja, ja, ja!« İkmen vergrub das Gesicht in den Händen und schloss die Augen. Die beiden meinten es ernster, als er gedacht hatte, seine Hülya und der Jude Berekiah Cohen. Der Sohn eines Freundes, ein sehr netter Junge. Einer von vielen. Er hatte den ganzen Yıldız-Park abgesucht, ohne Süleyman und İskender zu finden. Wo waren sie nur? Und warum saß er jetzt
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