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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Nadel
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doch das war nur ein blasser Abglanz dessen gewesen, was er jetzt empfand. Im Palast hatte es keine sichtbaren Hinweise gegeben, nur den Geruch von Blut und Schießpulver und das Geräusch von Männern, die andere Männer mit Gewalt vor sich her trieben. Doch jetzt saß er am Bett eines Freundes, den man fast bis zur Lähmung mit Drogen vollgepumpt hatte. Ohne noch einmal mit dem Arzt zu sprechen, der ihm etwas von einer Kopfverletzung erzählt hatte, würde er nicht herausfinden können, ob Hoffnung bestand, dass Süleyman sich je wieder erholte. Lügen! Das Ganze war von Anfang an eine einzige, verfluchte Täuschungs- und Vertuschungsaktion gewesen.
    »İkmen!«
    Ohne dass er es bemerkt hatte, war die Tür aufgegangen. Und wenn die Stimme, die seinen Namen rief, nicht so vertraut gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich gar nicht reagiert. So drehte er sich jedoch langsam um, die Waffe nach wie vor in der Hand, was Ardiç über alle Maßen erzürnte.
    »Geben Sie mir das Ding«, zischte der Polizeipräsident und stampfte mit ausgestreckter Hand auf İkmen zu, um die Waffe in Empfang zu nehmen.
    İkmen warf sie ihm ohne Umschweife zu und drehte sich wieder zu Süleyman um. Sein Vorgesetzter untersuchte die Pistole kurz und quittierte das Ergebnis mit einem Grunzen. İkmen beugte sich zu Süleyman hinunter, als wolle er ihn ein letztes Mal liebevoll umarmen. »Kein Wort über die Drogen«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Zu niemandem.«
    Süleyman rollte wild mit den Augen, dann schloss er sie.
    İkmen hörte, wie Ardiç rief: »Bringen Sie ihn her!« Kurz darauf wurde er von jeweils zwei Händen an den Schultern gepackt und hochgerissen, so dass er direkt in die wütenden Augen seines Vorgesetzten blickte.
    »Sie kommen jetzt mit mir, İkmen«, fauchte Ardiç. »Und Sie werden alles tun, was ich von Ihnen verlange.«
     
    Cemal hatte echte Fortschritte gemacht, das musste Aysel ihm lassen, auch wenn sie immer noch dunkle Ringe unter den Augen hatte und ständig gähnte. Vor noch nicht einmal einem Jahr war der Kleine mindestens fünfmal pro Nacht wach geworden, doch inzwischen schlief er durch. Allerdings kam er selten vor zehn Uhr abends zur Ruhe, und pünktlich zwischen fünf und sechs Uhr morgens wachte er wieder auf. Das bedeutete, dass sie zumindest ein paar Stunden Schlaf am Stück bekam. Und wenn sie nicht schlafen konnte, lag das meistens nicht an Cemal, sondern an Orhan.
    Aysel hielt Cemal im Arm und schob ihm den Sauger der Milchflasche in den Mund. Obwohl er mittlerweile auch voller Begeisterung feste Nahrung zu sich nahm, bevorzugte er morgens als Erstes immer noch sein Fläschchen. Dabei schmiegte er sich eng an sie, die Augen ganz schläfrig und zufrieden.
    Wenn Orhan das sehen könnte, dachte sie traurig, wäre selbst er gerührt. Doch Orhan hatte nicht zu Hause übernachtet, was in letzter Zeit häufig vorkam. In seinem eigenen Heim war er der Herr, und wohin er ging, erzählte er ihr nur, wenn es ihm passte. Aber sie wusste es sowieso. Wenn er nicht zur Arbeit fuhr, besuchte er Ayşe Farsakoğlu. Aysel hatte es beinahe von Anfang an gewusst. Schließlich war sie vorgewarnt: Er hatte all diese perversen Sachen machen wollen, und sie nicht. Sie hatte geahnt, dass er anderweitig nach Befriedigung suchen würde. Und bei Inspektor Süleymans Hochzeit hatte sie dann gesehen, wohin er die ganze Zeit geschaut hatte – zu einer hoch gewachsenen Polizistin in einem obszön offenherzigen Kleid. Man musste keine Hellseherin sein, um eins und eins zusammenzuzählen. Allerdings brauchte man schon ein Herz aus Stein, um dadurch nicht verletzt zu werden.
    Als es an der Tür klingelte, warf Aysel einen Blick auf die Wanduhr. Es war Viertel nach fünf, sehr früh für einen Besuch. Vielleicht hatte Orhan seinen Schlüssel verlegt – oder im Bett seiner Geliebten verloren. Aysel legte Cemal, der wieder eingeschlafen war, auf das Sofa und ging in den Flur. So wie ihr Mann es ihr eingeschärft hatte, öffnete sie die Tür zunächst nur einen Spalt, riss sie dann aber sofort ganz auf. Es war nur İkmen.
    »Guten Morgen, Çetin Bey«, sagte sie und steckte ein paar Haarsträhnen unter ihr Kopftuch.
    »Aysel.« Seine Stimme klang heute Morgen besonders rau, vermutlich von zu vielen Zigaretten. »Darf ich hereinkommen? Ich muss mit …«
    »Orhan ist nicht da, Çetin Bey.« Sie lächelte, bemerkte jedoch, dass er ihr Lächeln nicht erwiderte. Das war ungewöhnlich für ihn; er hatte sich ihr gegenüber immer ausgesprochen

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