Im Gewand der Nacht
bunten Lichter begleitete. Doch diese Ungleichheit zwischen Brüdern war im Grunde gar nicht so seltsam oder ungewöhnlich. İkmens eigener Bruder war ein wohlhabender Steuerberater mit besten Beziehungen, während er – nun ja, während er wie immer versuchte, irgendwie zurechtzukommen, mit seinem Beruf, den vielen Kindern und dem ständigen Geldmangel.
»Kommen Sie«, sagte Ardiç und öffnete die Beifahrertür. İkmen stieg nicht aus dem Wagen, er taumelte hinaus – eine leichenblasse Gestalt, die Augen vor Müdigkeit so klein, dass sie fast nicht mehr zu sehen waren. Eine schlanke Ausgabe von İkmens Vorgesetztem führte sie in die Zisterne, wo er freundlicherweise bereits alle bunten Lichter eingeschaltet sowie westliche klassische Musik aufgelegt hatte, die İkmen nicht erkannte. Aber sie war angenehm und nicht zu laut und überdeckte das potenziell störende Geräusch des tropfenden Wassers. Dieser riesige Raum mit seinen 336 acht Meter hohen Säulen war speziell für die Wasserversorgung des byzantinischen Kaiserpalasts erbaut worden, der als großer herrschaftlicher Verwaltungskomplex neben dem Hippodrom das gesamte Gebiet des heutigen Cankurtaran umfasste. Es gab kaum noch Spuren des alten Byzanz, wenn man von den Mauerresten des Bukoleon-Palasts absah – heute ein Treffpunkt für Stadtstreicher und Aussteiger und nur ein paar Minuten vom Haus des selbst ernannten Filmstars Ahmet Sılay entfernt. Als İkmen die Stufen zur Zisterne hinabstieg, erschien ihm Ahmet Sılay und auch jene andere Zisterne, in der sie die Leiche der armen kleinen Hatice gefunden hatten, unendlich weit entfernt. An irgendeinem Punkt hatten sich seine Ermittlungen geändert, hatten eine neue Richtung und eine neue Dimension bekommen, die er immer noch nicht so recht verstand.
In der Cafeteria angekommen, nahm Ardiç an einem der kleinen Tische Platz und bedeutete İkmen, sich zu ihm zu setzen.
»Osman wird uns Kaffee bringen und dann wieder gehen«, sagte er, als İkmen sich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen ließ.
»Um acht Uhr muss er die Zisterne offiziell öffnen; uns bleiben also fast eineinhalb Stunden.«
İkmen sah ihn traurig an. »Wofür?«
Wenn er nicht so müde gewesen wäre, hätte er die Frage an seinen Vorgesetzten noch ein wenig präzisiert. Aber er hatte in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan – er hatte Aysel Tepe die Nachricht vom Tode ihres Mannes überbracht und fühlte sich seltsam verwirrt. Etwas Schreckliches war geschehen, und auch wenn er ahnte, was dahinter steckte, so beschlich ihn doch das Gefühl, dass er eigentlich nichts genau wusste.
Ardiç räusperte sich. »Wenn Osman gegangen ist, werden wir reden«, sagte er. »Nur wir beide. Keine Notizen, keine Aufzeichnungen, bloß ein Gespräch, das nie stattgefunden hat und nie wieder erwähnt werden wird.«
»Noch mehr Rätsel.« İkmen steckte sich eine Zigarette an und blickte trübe auf den feuchten Fußboden. Wenigstens war es in der Zisterne angenehm kühl.
Osman Ardiç brachte eine Kanne Kaffee, zwei Tassen, Milch und Zucker. Er sagte kein Wort, lächelte nur seinen Bruder an und ging wieder.
Sobald sie allein waren, goss Ardiç ihnen beiden Kaffee ein und zündete sich eine Zigarre an. Dann lehnte er sich auf dem Stuhl zurück, suchte eine bequeme Haltung für seinen massigen Körper und sah İkmen an.
»Ich muss alles wissen, was Sie wissen, İkmen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich weiß, dass Sie, Süleyman und İskender gestern Abend im Yıldız-Park waren, als sich dort gewisse Vorfälle ereigneten.«
»Sie meinen, als mein Assistent zu Tode kam?« İkmen wollte gerade hinzufügen, dass außerdem noch Süleyman und möglicherweise auch İskender unter Drogen gesetzt worden waren, besann sich jedoch eines Besseren.
»Orhan Tepe stand auf der Gehaltsliste der Mürens.«
»Wahrscheinlich ist er durch Hassan Şeker in die Sache hineingeraten.« İkmen seufzte. »Ich nehme an, Tepe hat Ihnen erzählt, dass ich weiterhin gegen den Konditor ermittelt habe. Tepe wurde dafür bezahlt, dass wir Şeker wegen Hatice İpek nicht weiter behelligten.«
»Er war sehr beflissen und wollte der Organisation so dienstbar wie möglich sein«, sagte Ardiç. »Tepe hatte hohe Ausgaben, und für Geld hätte er fast alles getan. Ich gehe davon aus, dass seine Frau mit Ihrer Version der Ereignisse zufrieden war, İkmen?«
»Ja«, erwiderte İkmen matt. Was er Aysel Tepe gesagt hatte, war freundlich und notwendig gewesen, doch er hatte sich sehr
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