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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Nadel
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Stunden nach ihrem Tod beerdigt werden sollten, hatten die Verwandten der Mordopfer nicht nur den plötzlichen Tod eines geliebten Menschen zu verkraften, sondern auch die Tatsache zu akzeptieren, dass ein Begräbnis nach den Vorschriften ihres Glaubens unmöglich war: Die Todesursache musste festgestellt, Gewebe- und Flüssigkeitsproben entnommen und der Leichnam obduziert werden. Wie İkmen aus Erfahrung wusste, würde dies alles für die Familie İpek äußerst schwer zu ertragen sein.
    Während Hürrem İpek sich große, blutige Haarbüschel aus der Kopfhaut riss, erhob İkmen seine Stimme über ihre Schreie und versuchte, die sie umgebende Dunkelheit mit dem einzigen Hoffnungsschimmer zu durchdringen, den er ihr bieten konnte.
    »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich denjenigen, der das getan hat, seiner gerechten Strafe zuführen werde«, sagte er.
    »Ich werde nicht eher ruhen, bis diese Aufgabe erfüllt ist.«
    Er ließ Wachtmeisterin Gün bei Hürrem İpek zurück und ging hinüber in seine eigene Wohnung. Dort eröffnete er Hülya – die er gebeten hatte, zu Hause auf ihn zu warten –, dass ihre Freundin tot war. Hülya begann zu weinen und vergrub ihren Kopf an Bülents Schulter, bis İkmen zu ihr ging und sie in die Arme nahm. Er wiegte sie sanft vor und zurück und flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr, so wie seine Frau Fatma es tat, wenn sie ihre Kinder tröstete.
     
    Nachdem die Boeing 747 auf dem Flughafen Heathrow gelandet war, suchten Hikmet und Kaycee Sivas den Flugsteig, von dem aus ihr Anschlussflug über Amsterdam nach Istanbul gehen sollte.
    Kaycee lief nervös voraus, weil sie befürchtete, die Maschine zu verpassen. Hikmet, der daran gewöhnt war, wie die Dinge in der realen Welt – also außerhalb der USA – abliefen, folgte ihr in deutlich gemächlicherem Tempo.
    »Wahrscheinlich hat der Flug Verspätung«, sagte er mit einem Blick auf Kaycees langes, wehendes Haar. »Das hier ist Heathrow, der größte Flughafen Europas. Ich bin noch nie ohne Verspätung von hier weggekommen.«
    Und er sollte Recht behalten. Als sie schließlich ihren Flugsteig erreichten, stellte sich heraus, dass sich der Start um eine halbe Stunde verzögern würde.
    »Verdammt!«, sagte Kaycee und ließ zuerst ihr Handgepäck und dann ihren langen, schlanken Körper auf einen der äußerst unbequemen Stühle sinken. »Ich hasse diese Warterei.«
    »Willkommen in Europa«, lächelte Hikmet und ließ sich ebenfalls auf einem der Sitze nieder. »Du bist jetzt in der Alten Welt, da geht man wesentlich lässiger mit der Zeit um als in den Vereinigten Staaten. Und du wirst feststellen, je weiter wir uns nach Osten bewegen, desto mehr verwandelt sich diese Lässigkeit in Gleichgültigkeit. In meinem Land spielt der Faktor Zeit praktisch keine Rolle.«
    »Na toll«, meinte Kaycee finster. Doch dann lächelte sie Hikmet an und nahm seine Hand: »Ach, was soll’s, es ist schließlich ein Abenteuer. Und was hab ich davon, wenn ich mich hier wie eine Diva aufführe?«
    »Ich wusste doch, warum ich eine Akademikerin geheiratet habe«, sagte er und küsste sie.
    »Genau.«
    Vor Kaycee war Hikmet Sivas bereits dreimal verheiratet gewesen, jedes Mal mit unbedeutenden Starlets, deren Ego größer war als ihr Ruhm. Keine von ihnen hatte ihn jemals in die Türkei begleitet – und keine von ihnen hatte je das Bedürfnis danach verspürt. Aber Kaycee Durand war aus anderem Holz geschnitzt. Auf den ersten Blick wirkte auch sie wie ein typisches Hollywoodstarlet, doch sie war weder so dumm noch so jung, wie manch flüchtiger Beobachter glauben mochte: Tatsächlich arbeitete sie als Dozentin für Astrophysik an der UCLA, und mit ihren zweiunddreißig Jahren war sie immerhin halb so alt wie ihr Ehemann. Doch wie Hikmet wusste, konnte ihre Intelligenz durchaus auch Nachteile haben, was ihre nächste Frage bestätigte.
    »Also, Hi«, sagte sie, wobei sie die Kurzform seines Vornamens benutzte, die sehr viel besser zu seiner amerikanischen Identität zu passen schien als der Name Hikmet, »erzählst du mir jetzt endlich, was der wahre Grund für diesen plötzlichen Sommerurlaub ist?«
    Hikmet Sivas verzog das Gesicht.
    »Ich meine, ich will ja gerne glauben, dass es sich um irgendwelchen Familienärger handelt …«
    »Mein Bruder und meine Schwester haben … Probleme.«
    Er entzog ihr seine Hand und wandte das Gesicht ab.
    »Probleme, auf die du aber nicht näher eingehen willst«, erwiderte Kaycee. »Im Grunde kann es mir ja auch egal

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