Im Gewand der Nacht
Mehmets Blick. Obwohl sie selbst bürgerlicher Abstammung war, hegte Nur Süleyman einen ausgeprägten Standesdünkel. In Verbindung mit ihrer spitzen Zunge und einer fast grenzenlosen Boshaftigkeit machte sie das zu einer gefährlichen Gegnerin. Schließlich hatte Mehmet sie einst schwer enttäuscht. Inzwischen konnte er ihren Anblick nicht mehr ertragen.
Wie sehr würde seine Mutter den Geist ihres Enkels verkrüppeln und verdrehen? Schließlich hatte sie darin sowohl bei Mehmet als auch bei seinem Bruder Murad großen Erfolg gehabt. Andererseits würde sie nur dann dazu in der Lage sein, wenn er, Mehmet, dies auch zuließ – und er hatte bereits beschlossen, dass es niemals so weit kommen würde. Irgendwie, auch wenn er noch nicht genau wusste wie, würden Zelfa und er die nötigen Mittel aufbringen, um ihrem Sohn eine liebevolle und verantwortungsbewusste Erziehung zukommen zu lassen. Und Nur Süleyman, die Frau eines Prinzen und Mutter zweier »enttäuschender« Söhne, würde darin keine Rolle spielen.
4
Eines Tages verlässt uns unweigerlich das Glück – denn wenn es nicht so wäre, würden alle Lebewesen Unsterblichkeit erlangen. Die Frage, ob wir diese Gnade und ihren letztendlichen Entzug Allah oder den unberechenbaren Launen des Schicksals zu verdanken haben oder ob es sich schlicht um Zufall handelt, bietet rund um den Erdball Anlass zu immer neuen Debatten. Und obwohl all jene mit einer religiösen Überzeugung unerschütterliche Antworten haben auf alle Fragen zur Identität und zu den Zielen der jeweiligen Gottheit, die ihre Geschicke lenkt, sind auch sie nicht gegen den Schmerz gefeit, der durch Verlust entsteht. Wobei sich der menschliche Verstand zunächst einmal instinktiv weigert, ein Ereignis zu akzeptieren. Die erste Reaktion besteht für gewöhnlich in dem Versuch, ein paar zusätzliche Sekunden an Normalität zu gewinnen, indem der oder die Betroffene sich mit Macht gegen die Erkenntnis sträubt, dass das Geschehene tatsächlich der Wahrheit entspricht.
»Nein, Nein, das muss ein Irrtum sein«, sagte Hürrem İpek. Sie wich zurück, als wolle sie sich in der Ecke ihres Sofas verstecken. »Nein, es kann nicht meine Hatice sein, nein …«
»Leider besteht daran kein Zweifel«, sagte İkmen. Sowohl er als auch die Polizistin, die ihn begleitete, waren stehen geblieben, als sie Hürrem die schreckliche Nachricht überbrachten. Sie hatten sich nicht setzen wollen, genau wie die Beamten, die sie damals von Celals Tod informierten. Celal! Wie sehr ihr Herz nach all den Jahren immer noch um ihren Ehemann trau erte – und wie sehr ihr Körper sich immer noch nach seinem sehnte.
Hürrem stemmte sich ein letztes Mal gegen die Wahrheit.
»Nein«, flüsterte sie, während ihr langsam Tränen in die Augen stiegen.
»Der Arzt muss die genaue Ursache von Hatices Tod noch ermitteln«, sagte İkmen. Er war an diese Art von Reaktion gewöhnt – wenn auch noch lange nicht dagegen abgestumpft.
Die Polizeibeamtin setzte sich neben Hürrem und nahm ihre Hände.
»Allerdings muss ich Sie davon in Kenntnis setzen«, fuhr İkmen mit ernster Stimme fort, »dass wir befürchten, Ihre Tochter ist eines unnatürlichen Todes gestorben. Sie werden sich leider darauf gefasst machen müssen.«
Hürrems Augen weiteten sich.
Wachtmeisterin Gün, eine gläubige junge Frau, murmelte die bei einem solchen Schicksalsschlag üblichen, traditionellen Worte. »Möge dein Geist lebendig sein«, sagte sie zu Hürrem.
İkmen drückte seine Zustimmung aus, indem er leicht den Kopf neigte.
»Aber ich will nicht lebendig sein!«, rief Hürrem mit vor Kummer belegter Stimme. »Ich will sterben! Ich will …«
Und dann begann sie zu schreien.
»Es tut mir so unendlich Leid«, sagte İkmen, doch seine Worte wurden übertönt von den schrillen Schreien der Frau.
» Hatice war ein gutes Kind, eine Freundin meiner Tochter …«
»Nein!«
Hürrem entriss Gün ihre Hände, fuhr sich durch das Gesicht und die Haare, zog und zerrte daran und machte ihren Kummer zu etwas Sichtbarem, Greifbarem – zu etwas, was sie später im Badezimmerspiegel betrachten konnte und was sie daran erinnern würde, dass das Geschehene tatsächlich der Wahrheit entsprach.
İkmen und Gün ließen sie gewähren. Sie hatten Verständnis für diese Reaktion, denn natürlich war Hürrem İpek, wie so viele trauernde Verwandte, denen İkmen im Zusammenhang mit seiner Arbeit begegnete, gläubige Muslimin. Und da alle Muslime innerhalb von vierundzwanzig
Weitere Kostenlose Bücher