Im Gewand der Nacht
urteilen, musste Sılay ein sehr interessantes Leben geführt haben.
»Hikmet Sivas, oder ›Ali Bey, der Sultan‹, wie man ihn in Hollywood nannte«, erwiderte Sılay. »Ich bin ihm zum ersten Mal in Ägypten begegnet, wo wir beide in einem Kolossalfilm von V.O. Bengü mitspielten. Er hat auch das Foto von mir gemacht. Wir kamen gut miteinander aus und sind anschließend zusammen in die Türkei zurückgekehrt.« Sılay zuckte die Achseln. »Doch dann ging Hikmet nach Hollywood, während ich hier blieb, um mit dem größten Regisseur aller Zeiten zu arbeiten.«
Tepe runzelte die Stirn. Seines Wissens waren weder Steven Spielberg noch Ridley Scott türkischer Abstammung.
»Ich meine Yılmaz Güney«, erklärte Sılay, der die Verwirrung des anderen bemerkt hatte. Güney zählte zu den bedeutendsten und umstrittensten Regisseuren der Türkei. »Ein genialer Künstler und ein wahrer Held des Volkes.«
Sılays Blick hatte etwas Herausforderndes angenommen. Wenn er tatsächlich mit Güney gearbeitet hatte, überlegte Tepe, teilte Sılay wahrscheinlich einige der politischen Ansichten des verstorbenen Regisseurs – und die Art, wie er über ihn sprach, schien dies zu bekräftigen. Doch dann rief Tepe sich selbst zur Ordnung: Er war weder hier, um mit Sılay über alte Zeiten zu reden noch um mit ihm über Güney zu diskutieren, der einen beträchtlichen Teil seines Lebens im Gefängnis verbracht hatte.
»Haben Sie jemals eines der beiden Mädchen, Hatice İpek oder Hülya İkmen, in Ihr Haus eingeladen, um ihnen Ihre Sammlung von Erinnerungsstücken zu zeigen?«, fragte er.
»Nein. Wozu? Wenn ich ausgehe, bin ich ein interessanter, alter Mann. Warum sollte ich die Mädchen mit zu mir nach Hause nehmen und diese Illusion zerstören? Hier würde ihnen doch nur aufgehen, was ich wirklich bin.«
Neben den Erinnerungsstücken aus seiner Zeit beim Film waren die einzig bemerkenswerten Dinge in diesem Haus die unzähligen Rakiflaschen, die in schweigenden Gruppen in jedem Zimmer standen. Sılay, der Alkoholiker, wusste, wovon er sprach.
»Und gestern Abend haben Sie sich mit den Mädchen unterhalten …«
»So wie jeden Abend.« Sılay runzelte die Stirn. »Ist Hatice oder Hülya irgendetwas zugestoßen?«
»Beantworten Sie einfach nur meine Fragen, Herr Sılay.«
Mit dieser offiziellen Formulierung verwandelte Tepe sich wieder in einen Polizeibeamten.
Sılay, der dieser Haltung infolge seiner Bekanntschaft mit Güney aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zum ersten Mal begegnete, nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas und ließ resigniert die Schultern sinken.
»Um welche Zeit haben Sie die Pastahane verlassen?«, fragte Tepe.
»Gegen zehn.«
»Also kurz vor Feierabend.«
»Ja.«
»Wohin sind Sie von dort aus gegangen?«
»Ich bin nach Bebek gefahren.«
Ob Künstler oder nicht, Sılay machte auf Tepe nicht gerade den Eindruck, als habe er in einem noblen Vorort wie Bebek etwas verloren. Der Polizist konnte sich auch nicht vorstellen, dass sich der alte Schauspieler von der berühmten Spezialität dieses Viertels – Eiscreme – anlocken ließ.
Sılay ahnte, was Tepe dachte, und fuhr mit einer gehörigen Portion schauspielerischer Arroganz fort: »Mein Vater, der in Bebek lebt, wird Ihnen das bestätigen können. Ich bin dort hingefahren, um ihn zu besuchen. Er ist sehr alt, und obwohl ich, wie Sie sich sicher denken können, eine große Enttäuschung für ihn darstelle, bin ich immer noch sein Sohn und halte den Kontakt zu ihm aufrecht.«
»Ich verstehe.«
»Und um Ihre nächste Frage ebenfalls zu beantworten, Wachtmeister: Ja, ich habe ihn auch deshalb aufgesucht, um ihn um etwas Geld zu bitten.« Sılay lächelte, doch es lag keine Wärme in seinen Augen. »Ich habe seit 1983 keine Rolle mehr angeboten bekommen, und etwas anderes als schauspielern kann ich nicht. Irgendjemand muss dafür sorgen, dass ich ein Dach über dem Kopf habe, und mein Vater ist sehr reich.«
Also nicht gerade die Art Mensch, die große Sympathie für die Herkunft oder die politischen Ansichten von Yılmaz Güney aufbringen würde, dachte Tepe. Es musste Sılay senior zutiefst getroffen haben, dass sein Sohn, dem er zweifellos eine exzellente Ausbildung hatte zuteil werden lassen, seine Zeit mit Kommunisten und Knastbrüdern vertat. Aber vielleicht gab der alte Mann seinem Sohn auch nur deshalb Geld, damit er wieder verschwand – sich zum Trinken in sein übles Viertel zurückzog und ihm aus den Augen blieb.
»Ich habe
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