Im Gewand der Nacht
sein. Es ist einfach nur so, dass ich aus New Orleans komme, eine Menge Familienstreitigkeiten erlebt habe und weiß, welche Formen das manchmal annehmen kann. Du erinnerst dich: Kurz bevor wir losgeflogen sind, musste ich extra nach Hause, um meine Mom zu einer Juju-Frau zu bringen, die ihr mittels eines Zaubers helfen sollte, ihren Ehemann loszuwerden.«
»Nein, um so etwas geht es nicht.« Hikmet wandte sich Kaycee wieder zu. Seine Gesichtszüge wirkten ungewöhnlich angespannt, was ihn in ihren Augen sehr türkisch aussehen ließ.
»Worum geht es dann, Hi?«, fragte sie ihn. »Was sind das für Probleme?«
»Typisch türkische Probleme«, antwortete er. »Mehr kann ich dir nicht erzählen, du würdest es ja doch nicht verstehen.«
Und mit einer Härte in der Stimme, die sie von ihm nicht kannte, fügte er hinzu: »Genauso wenig wie ich deine Juju-Frauen in New Orleans und ihre Hexerei verstehe.«
»Aber …«
»Lies dein Buch und warte auf das Flugzeug, Kaycee«, sagte er. »Du wirst einen schönen Urlaub in meinem Land verbringen. Es wird dir gefallen. Und wenn alle Probleme gelöst sind, werden wir mit einer Menge glücklicher Erinnerungen in die Staaten zurückkehren.«
Er stand auf und ging zum Fenster. Ein Airbus der British Airways näherte sich langsam ihrem Flugsteig. Bald würde er in seiner Heimat sein, in der wunderschönen Türkei. Er freute sich darauf, wieder ungehindert Zigaretten rauchen zu können, auch wenn man das seinem unbeschreiblich traurigen Gesicht nicht ansehen konnte.
Cankurtaran liegt zwischen dem prächtigen, vor Sehenswürdigkeiten strotzenden Stadtteil Sultanahmet und dem Marmarameer. Es ist ein Viertel mit heruntergekommenen, wenn auch beinahe malerisch wirkenden Straßen, kleinen Schulen, vielen Kindern und den Ruinen des düsteren byzantinischen Bukoleon-Palasts, von dem heute kaum mehr als eine Mauer mit drei gewaltigen, von Marmor umrahmten Fenstern erhalten ist. Der Palast war schon eine Ruine, als Sultan Mehmet II. im Jahre 1453 Konstantinopel eroberte, und angeblich inspirierte sein Anblick den siegreichen Monarchen zu den folgenden Zeilen:
Die Spinne webt den Vorhang
im Palast der Cäsaren
Die Eule ruft die Stunden aus
in den Türmen von Afrasiab.
Dieses Viertel, und besonders das Gebiet rund um den alten Palast und den Bahnhof, ist alles andere als sicher. Diebstähle und Raubüberfälle sind an der Tagesordnung, und vor allem nachts sollten Frauen sich nicht allein in diese Gegend wagen. Angeblich treffen sich in den alten Palastgärten die Säufer, um gemeinsam ihren Raki zu trinken, und manche von ihnen werden danach aggressiv und rüpelhaft. Andere betrinken sich dagegen einfach zu Hause – und zu dieser Gattung gehörte Ahmet Sılay, Exschauspieler, Alkoholiker und Geschichtenerzähler. An diesem schönen Nachmittag hockte er auf einem Kelim auf dem Boden seines kleinen Häuschens in der Cankurtaran Caddesi und unterhielt einen jungen Polizeibeamten auf seine eigene, unnachahmliche Art und Weise.
»Ja, ich rede gern mit den Mädchen in der Pastahane«, antwortete er auf Tepes Frage nach Hatice İpek und Hülya İkmen.
» Und sie reden gern mit mir.« Er nahm einen großen Schluck aus seinem Rakiglas und wischte sich anschließend mit der Hand über den Mund. »Ich bin nämlich ein ziemlich interessanter alter Knacker.«
Tepe, der am Fenster in der Sonne saß, entdeckte vor sich auf dem Tisch ein Foto und betrachtete es neugierig. Die Schwarzweißaufnahme zeigte einen gut aussehenden jungen Mann in einem jener für die fünfziger Jahre so typischen weiten Anzüge.
Sılay folgte seinem Blick und lächelte.
»Das bin ich«, sagte er, »damals in Ägypten. Ich war achtzehn und, wie Sie selbst sehen können, unverschämt attraktiv. Das Foto wurde am Set meines ersten Films aufgenommen.«
»Also ist es Ihre Karriere als Schauspieler, die die Mädchen so fasziniert?«, fragte Tepe.
»Meine Karriere?« Verächtlich warf Sılay den Kopf in den Nacken. »Aber nein. Die Tatsache, dass ich mit dem größten Regisseur aller Zeiten gearbeitet habe, hat sie nicht beeindruckt – dass ich einen Mann kenne, der nach Hollywood gegangen ist, dafür umso mehr.«
»Und wie heißt der?« Obwohl er eigentlich beim Thema bleiben sollte – schließlich handelte es sich hier um einen Verdächtigen –, reizte es Tepe, weitere Fragen nach dem Vorleben seines Gegenübers zu stellen. Den vielen Filmplakaten und Erinnerungsstücken in dessen Haus nach zu
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