Im Gewand der Nacht
große Nähe zu den Toten beunruhigt. Doch mittlerweile oder, genauer gesagt, am heutigen Tag waren es eher die Lebenden, die ihn nervös machten. Während der langen Stunden, die er wartend im Flur vor der Entbindungsstation verbracht hatte, waren Hunderte von Patienten an ihm vorübergezogen – blutend, an Tropfe angeschlossen, vor Schmerz schreiend. Sie waren genauso wenig verantwortlich für ihre Krankheiten wie das hart arbeitende Personal für die Tatsache verantwortlich war, dass es viel zu viel zu tun hatte, um jeden Patienten angemessen behandeln zu können. Dieser Umstand war nur ein weiteres Anzeichen für den gewaltigen Druck, unter dem sämtliche öffentlichen Einrichtungen in dem sich immer weiter ausdehnenden Monster standen, in das sich das moderne Istanbul verwandelt hatte.
Er blickte seinen Schwiegervater an und lächelte müde. »Ich musste einfach mal an die frische Luft. Da drinnen war ich von keinem großen Nutzen.«
»Du weißt, dass in Zelfas Heimat Irland die Männer ihre Frauen in den Kreißsaal begleiten, um die Geburt ihrer Kinder mitzuerleben?«, fragte Dr. Babur Halman. »Natürlich haben sie das zu Zeiten von Zelfas Geburt noch nicht getan. In den fünfziger Jahren war es in Dublin so, wie es heute hier ist.«
»Einige Männer sind auch hier bei der Geburt ihrer Kinder dabei«, erwiderte Mehmet. »Zumindest habe ich davon gehört. Aber …«
»Aber für dich ist das nichts?« Babur lächelte. »Wenn man bedenkt, wie meine Tochter sein kann, wenn sie Schmerzen hat, wäre das vielleicht auch gar keine so gute Idee.«
Die beiden Männer wechselten einen kurzen, wissenden Blick.
»Man hat mir versichert, dass sowohl mit Zelfa als auch mit dem Baby alles in Ordnung ist – von daher mache ich mir keine allzu großen Sorgen«, fuhr Babur fort. »Bevor der Tag zu Ende geht, wirst du einen Sohn haben und ich einen Enkel. Inschallah.«
Mehmet lehnte sich mit dem Rücken gegen die Außenwand des Krankenhauses und drehte sein schmales, attraktives Gesicht in den Schatten eines in der Nähe stehenden Baumes. Mit seinen sechsunddreißig Jahren war er zwölf Jahre jünger als die blonde »ausländische« Frau, die nun mit ihrem gemeinsamen Sohn in den Wehen lag. Es tat gut zu hören, dass Zelfa – immerhin eine sehr alte Erstgebärende – wohlauf war, doch Mehmet gingen auch noch andere Dinge durch den Kopf. Sein Sohn würde der erste männliche Nachkomme seiner Generation der Familie Süleyman sein – und wie er wusste, stellte dies ein Ereignis von beträchtlicher Bedeutung dar. Andererseits war die Geburt eines männlichen Nachkommen immer ein bedeutendes Ereignis, vor allem in einer traditionellen türkischen Familie wie der seinen.
Die Familie Süleyman konnte sich einer langen und noblen Ahnentafel rühmen. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts hatten Mehmets Vorfahren zu den vornehmsten Familien in Trabzon, einer Stadt am Schwarzen Meer, gezählt. Als jedoch einer seiner Ahnen, ein junger Mann namens Süleyman, sich im Krieg gegen Russland durch außergewöhnliche Tapferkeit hervortat, belohnte der damalige Sultan die Familie mit Land und Süleyman selbst mit der Hand einer seiner Töchter. Dieser Vorfahre des »gewöhnlichen« Türken Mehmet Süleyman hatte also königliches Blut in die Familie eingebracht, und es war ihm und seinen Nachkommen gelungen, ihren Wohlstand zu mehren, Reichtümer anzuhäufen und weitere Prinzessinnen zu heiraten. Doch mit dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des Osmanischen Reiches änderte sich die Lage.
Heute lebte die Familie Süleyman viele Kilometer von ihrem ehemaligen Palast am Bosporus entfernt und litt genau wie alle anderen unter den Folgen der Hyperinflation. Mehmets Vater, den manche Leute immer noch Prinz Muhammed nannten, besaß außer seiner adligen Abstammung und seiner Liebe zur französischen Sprache kaum noch etwas, was ihn daran erinnerte, welche Bedeutung seine Familie einmal gehabt hatte. Ein Enkel bot jedoch einen gewissen Trost, und obwohl die Mutter des Kindes nicht nur eine Ausländerin, sondern sogar eine »Bürgerliche« war, erwartete er den noch ungeborenen Jungen voller Ungeduld. Mehmets Mutter würde bei jeder sich bietenden Gelegenheit für das Kind sorgen wollen, und da Mehmet bei der Polizei tätig war und Zelfa von ihrer eigenen psychiatrischen Praxis in Anspruch genommen wurde, würden sich wahrscheinlich mehr als genug Gelegenheiten ergeben. Oder auch nicht – denn allein beim Gedanken daran verfinsterte sich
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