Im Gewand der Nacht
ich an deinen Großvater denke und der Schmerz so stark ist, dass ich das Gefühl habe, jemand hat mir einen Schlag in den Magen verpasst.«
Bülent trank einen Schluck Wasser aus der Flasche, lehnte sich dann zurück und schloss die Augen. Mit seinen achtzehn Jahren war er noch nicht reif genug, um mit den Gefühlen, die sein Vater beschrieb, angemessen umgehen zu können. Daher saßen beide nur schweigend da, bis İkmens Mobiltelefon klingelte.
Hassan Şeker, der einen eleganten Anzug trug und nach einem teuren Rasierwasser duftete, wirkte vollkommen deplatziert hinter dem alten, fleckigen Holztisch im Vernehmungsraum 2. Das spärliche Licht der einzigen Glühbirne an der Decke ließ sein tadelloses Aussehen noch bizarrer erscheinen. Orhan Tepe wusste, dass Şeker in gewisser Weise für ihn unerreichbar war. Im Grunde fiel der Mann in die gleiche Kategorie wie Mehmet Süleyman, dachte er säuerlich. Während der osmanischen Zeit, als Süleymans Familie noch zur Aristokratie gehörte, hatte Şekers Familie die kulinarischen Künstler hervorgebracht, die die Adligen bedienten. Die von ihrer hoch gestellten Kundschaft geförderten und umschmeichelten Patissiers, Juweliere und anderen Kunsthandwerker hatten im Laufe der Zeit selbst Ruhm erlangt und Reichtümer angehäuft. Und obwohl sich die Zeiten seitdem geändert hatten und 1923 die Türkische Republik ausgerufen worden war, hatten sich diese Leute ihren Wohlstand und ihr Ansehen bewahren können.
Tepe blickte erneut zu Şeker hinüber und verzog das Gesicht. Genau wie Süleyman, dachte er – gut aussehend, beliebt bei den Frauen und reich … verglichen mit ihm. Seine Miene verfinsterte sich noch mehr, was dem Konditor nicht entging.
»Bedrückt Sie vielleicht irgendetwas, Herr Wachtmeister?«, fragte er und blickte Tepe von oben herab an.
Tepe warf dem jungen Beamten an der Tür einen flüchtigen Blick zu. Normalerweise traten diejenigen, die hier vernommen wurden, nicht so selbstbewusst und unbekümmert auf, und dem Beamten sah man sein Unbehagen deutlich an.
»Ich hoffe nur, dass Inspektor İkmen bald kommt«, meinte Tepe. »Es wäre gut, wenn wir das hier endlich hinter uns bringen könnten.«
»Sie sagen es«, erwiderte Şeker und schenkte Tepe einen verächtlichen Blick.
Danach herrschte wieder Stille. Nach einer Weile klopfte jemand an die Tür; der Beamte öffnete, und İkmen trat ein. Hassan Şeker erhob sich umgehend von seinem Stuhl.
»Ah, Inspektor«, sagte er. »Ich weiß, es ist viel verlangt, aber wenn Sie diesem dummen Menschen hier klar machen könnten, dass er einen schweren Irrtum begangen hat, wäre ich Ihnen sehr verbunden.«
İkmen sah zu Tepe hinüber, lächelte Şeker an und setzte sich.
»Falls Sie damit meinen, dass Wachtmeister Tepe einen Fehler begangen hat, als er Sie hierher brachte, dann muss ich Sie leider enttäuschen.« İkmen zündete sich eine Zigarette an. »Wenn Sie einfach seine Fragen beantwortet hätten …«
»Er und seine Handlanger sind in meine Geschäftsräume eingedrungen und haben beleidigende Fragen gestellt!«
»Hören Sie, Herr Şeker, wir haben Grund zu der Annahme, dass Sie zu einem heute Morgen tot aufgefundenen Mädchen eine intime Beziehung unterhielten.«
»Ja, ja.« Şeker fuhr sich mit der Hand durch die Haare und senkte den Kopf. »Er hat mir von Hatice erzählt, und es tut mir auch furchtbar Leid. Das Ganze ist wirklich erschütternd. Aber was mein angebliches Verhältnis mit ihr betrifft …«
»Oh, ich stimme Ihnen zu«, sagte İkmen, »dass ich bezüglich Ihrer Beziehung zu Hatice vielleicht übertrieben habe. Den Informationen zufolge, die wir erhalten haben, schien es nicht über sexuelle Handlungen hinauszugehen – falls es überhaupt dazu gekommen ist. Aber Sie wurden dabei beobachtet, wie Sie ihre Brüste berührten, und es schien ihr zu gefallen.«
Şeker hob den Kopf ein wenig. Seine Augen funkelten wütend. »Und wer sagt das?«
»Sie müssen verstehen, dass ich nicht …«
»Aber natürlich – ich habe Ihren Männern die Adresse von Ahmet Sılay doch selbst mitgeteilt!« Er lachte freudlos. »Und Sie schenken den Worten eines politisch fragwürdigen Alkoholikers Glauben. Diese Beobachtungen sind reine Phantasie, das Produkt eines Geistes, der besessen ist von der Welt des Films.«
»Außer Herrn Sılay gibt es noch einen Zeugen, der diese Behauptung bestätigen kann und der nicht dem Alkohol zugeneigt ist.«
»Wer?« Şekers Stimme klang herausfordernd, regelrecht
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