Im Gewand der Nacht
herrisch. »Nun, ich höre!«
»Herr Şeker, es steht nicht in meiner Macht …«
»Aber wenn ich diese Anschuldigung widerlegen soll, dann muss ich wissen, mit wem ich es zu tun habe! Das ist eine glatte Lüge! Ich bin mir durchaus der Tatsache bewusst, dass einige meiner Mitarbeiter mich nicht unbedingt mögen.«
İkmen schwieg beharrlich, und Şeker ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. Dabei schien ihm ein Gedanke zu kommen, möglicherweise bedingt durch İkmens ungewohnt ernsten Gesichtsausdruck. »Es sei denn, es handelt sich um Ihre Tochter«, sagte er. »In diesem Fall gestehe ich wohl besser gleich – egal, ob ich schuldig bin oder nicht.«
İkmen seufzte. Die Vernehmung hatte eine Richtung eingeschlagen, die ihm nicht behagte. Aber als Tepe ihm am Telefon von Şeker berichtete, hatte er seine Tochter über das Verhältnis zwischen Hatice und ihrem Arbeitgeber befragen müssen.
»Herr Şeker, es wäre vielleicht hilfreich, wenn Sie die Wahrheit sagen würden«, schlug İkmen vor. »Schließlich ist es kein Verbrechen, die Brust einer jungen Frau zu berühren oder mit ihr ein Verhältnis zu unterhalten. Wir beschuldigen Sie doch gar nicht, ihr irgendetwas angetan zu haben; wir müssen einfach nur wissen, zu wem sie Verbindungen hatte. Und da Sie vermutlich einer der Letzten sind, die sie lebend gesehen haben …«
»Als sie mit der Arbeit fertig war, hat sie zusammen mit Ihrer Tochter die Pastahane verlassen.«
»Und danach haben Sie sie nicht mehr gesehen?«
»Nein. Ich bin wie üblich mit meiner Frau nach Hause gegangen. Ich habe dieses Mädchen nie angerührt. Wenn es Leute gibt, die meine natürliche Freundlichkeit mit etwas anderem verwechseln, dann ist das ihr Problem, nicht meins.« Hassan Şeker lehnte sich sichtlich erschöpft auf dem Stuhl zurück.
İkmen drückte seine Zigarette aus und zündete sich sofort die nächste an. »Vielleicht haben Sie ja Recht«, sagte er. »Möglicherweise handelt es sich tatsächlich um ein Missverständnis …«
»Ich danke Ihnen!«
»Nichtsdestotrotz stehe ich zum Vorgehen meiner Beamten. Wir waren verpflichtet, diesen Anschuldigungen nachzugehen.«
»Ja, natürlich.« Şekers Miene hatte sich sichtlich entspannt, wenngleich er auch nicht gerade lächelte.
An diesem Punkt beendete İkmen die Vernehmung und ließ Hassan Şeker gehen.
Als die Schritte des Konditors im Flur verhallten, wandte Tepe sich an seinen Vorgesetzten: »Glauben Sie ihm, Chef?«
»Nein.« İkmen runzelte die Stirn. »Es steht sein Wort gegen das von Ahmet Sılay und Hülya. Zumindest von meiner Tochter weiß ich, dass sie nicht lügt. Sie hat gesehen, wie er an Hatice herumgegrabscht hat. Aber selbst wenn ich das nicht wüsste, würde ich Hassan Şeker immer noch als Lügner bezeichnen.«
»Warum?«
İkmen lächelte. »Ach, nur so, Tepe. Manchmal hab ich einfach so ein Gefühl. Nennen Sie es von mir aus übernatürliche Fähigkeiten – in Ermangelung eines treffenderen Begriffs.« Er stand auf, um hinauszugehen.
»Übernatürliche Fähigkeiten?«, wiederholte Tepe verwirrt.
»Ja«, sagte İkmen und öffnete die Tür zum Flur, »wie bei einer Vorahnung – so was in der Art. Aber bitte erwähnen Sie das nicht gegenüber Polizeipräsident Ardiç, der hasst das nämlich.« Dann verließ er lächelnd den Raum.
Trotz ihres Größenunterschieds und der Tatsache, dass Mehmet besser aussah als Murad, konnte man sofort erkennen, dass die Brüder Süleyman eng verwandt waren. Durch die Art und Weise, wie sie zusammengesunken dasaßen und, mit dem Rücken gegen die Krankenhausmauer gelehnt, das Kinn in die langen, schlanken Hände stützten, erinnerten sie eher an gescholtene Kinder als an erwachsene Männer mittleren Alters.
An diesem heißen, stickigen Abend leistete Murad seinem Bruder seit über einer Stunde Gesellschaft; ab und zu wechselten sie ein paar Worte, doch hauptsächlich versuchten sie, mit Rauchen oder einem gelegentlichen Schluck aus der Coladose die Zeit totzuschlagen. Seine Schwägerin lag schon den ganzen Tag in den Wehen, was Murads eigenen Erfahrungen als werdender Vater vollkommen widersprach. Seine verstorbene Frau Elena, eines der schmerzlich vermissten Opfer des furchtbaren Erdbebens von 1999, hatte ihre Tochter innerhalb von zwei Stunden zur Welt gebracht. Allerdings war sie auch jünger gewesen; selbst heute wäre sie gerade einmal achtundzwanzig. Der Gedanke daran und die drückende Hitze bereiteten Murad Übelkeit, und er lenkte sich ab, indem
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