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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Nadel
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er Mehmet ansah. Das Gesicht seines jüngeren Bruders war ziemlich bleich.
    Murad beugte sich zu ihm hinüber und nahm seine Hand.
    »Heutzutage ist das keine große Sache mehr«, sagte er und versuchte zu lächeln. »Außerdem hat der Arzt gesagt, dass er ihr noch eine Stunde gibt.«
    »Ja, schon, aber wenn mein Sohn nicht innerhalb der nächsten Stunde geboren ist …«
    »Dann werden sie einen Kaiserschnitt machen«, erwiderte Murad, »wie der Arzt schon sagte. Die machen das hier jeden Tag, Mehmet. Alles wird gut. Inschallah.«
    »Hmm.«
    Sie saßen eine Weile schweigend da, beobachteten, wie Krankenwagen und andere Fahrzeuge vorfuhren und nahmen teil an der vierundzwanzigstündigen Seifenoper, die sich in Krankenhäusern jeden Tag abspielt. Geburt, Tod, Krankheit, Freude, Kummer und Zorn – all das hatte Mehmet seit seiner Ankunft an diesem Ort, der einen Wendepunkt in seinem Leben markieren sollte, schon gesehen. Bald würde nichts mehr sein wie zuvor. So war es jedenfalls nach der Geburt von Murads kleiner Tochter Edibe gewesen. Mehmet sah seinen älteren und weiseren Bruder an und lächelte.
    »Also, wie haben Mutter und Vater reagiert, als du es ihnen gesagt hast?«, fragte er.
    Murad lächelte. »Vater hat mir die Goldmünze gezeigt, die er für deinen Sohn gekauft hat«, sagte er und spielte damit auf die alte türkische Tradition an, nach der Neugeborene mit einer Goldmünze beschenkt werden. »Es ist eine der größten Münzen, die ich je gesehen habe. Er meinte, sie stamme aus der Regierungszeit von Sultan Abdülmecit.«
    Mehmet schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Aber so was kann er sich doch gar nicht leisten, wo du schon die Hälfte der Unterhaltskosten für sein Haus bezahlst …«
    »Mehmet, er muss es einfach tun, das weißt du doch«, erwiderte Murad. »Genau wie die feinen Restaurants und die maßgeschneiderten Anzüge. So ist er nun mal, so wurde er erzogen.«
    Mehmet blickte hinauf in den Himmel. »Oh ja«, sagte er mit leiser Stimme, »am Ufer des glitzernden Bosporus, mit kostbaren Teppichen auf den Böden, mit Dienern und Kindermädchen, die über ihn wachten, wenn er mit seinen weißen Angorakätzchen durch den üppig blühenden Garten wandelte.«
    »Ja, oder so ähnlich«, sagte Murad, und dann mussten beide lachen. Bald, sehr bald schon würde ein weiterer kleiner Süleyman das Licht der Welt erblicken. Und hoffentlich würde er als Sohn einer pragmatischen irischen Mutter und eines hart arbeitenden Vaters diese freundliche, wenn auch anachronistische und unvernünftige Geste seines wunderlichen Großvaters zu schätzen wissen. Mehmets Sohn würde sein Leben zumindest auf traditionelle fürstliche Weise beginnen, in würdiger Nachfolge der Prinzen, die seine Vorfahren einst gewesen waren.
    Die im ersten Stock gelegenen Räumlichkeiten des Familienrestaurants waren glücklicherweise relativ leer. Abgesehen von ein paar Studenten in einer Ecke, saßen nur sie beide hier oben. Also würden sie nicht gesehen werden, und das war gut. Dennoch blickte Wachtmeisterin Ayşe Farsakoğlu sich mit großen traurigen Augen um. Diese kleinen pideci waren zwar sauber und preiswert, aber auch schrecklich langweilig. Dabei ging es gar nicht darum, dass sie kein pide mochte, dieses dicke Fladenbrot, das mit Käse, Fleisch, Eiern oder allem möglichen anderen belegt wurde, was das Herz begehrte. Genau wie die italienische Pizza, mit der dieses Gericht oft verglichen wurde, erfreute sich pide großer Beliebtheit. Nein, Ayşe störte sich nicht an dem Essen oder dem stumpfsinnigen Gedröhne, das aus dem Radio in der Ecke ertönte.
    »Ich werde in drei Wochen dreißig«, sagte sie zu dem Mann, der ihr gegenübersaß.
    Orhan Tepe blickte von seinem pide auf und sah in ihre funkelnden Augen. »Ja, das weiß ich«, erwiderte er. »Wir werden dann in Tarabya essen gehen.«
    »Wo niemand uns kennt«, fügte sie hinzu und presste missgelaunt die Lippen zusammen. »An meinem dreißigsten Geburtstag gehe ich statt mit einem Ehemann mit meinem Liebhaber aus – und noch dazu an einem Ort, an dem uns niemand kennt.«
    »Ja.« Er zuckte die Achseln. »Ich bin ein verheirateter Mann. Im Augenblick geht es eben nicht anders.«
    »Ich will aber ins Four Seasons oder ins Çatı oder ins Rejans«, sagte sie und nannte damit drei der teuersten Restaurants der Stadt.
    Der Junge, der sie an diesem Abend bediente, kam zu ihnen an den Tisch und nahm Tepes leeres Colaglas mit. Vielleicht versuchte er auch, einen Teil

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