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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Nadel
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Wassers, genau wie Pera, die »neue« Stadt, in der es alles gab, was europäisch war und verboten und verlockend. Die asiatische Seite, auf der er im Augenblick stand und in deren altem Arbeiterviertel Üsküdar er das Licht der Welt erblickt hatte, war anders – manchmal hatte er das Gefühl, dies sei der ältere Teil der Stadt, auch wenn er wusste, dass das nicht stimmte. Vielleicht lag es an der Denkungsart, dem asiatischen Geist, der von ständigen Mühen geprägt und dem Leid und der Gegenwart des Todes verbunden war; nicht umsonst wurde das ganze Gebiet von riesigen Friedhöfen mit großen, schattigen Bäumen beherrscht. Selbst hier im schicken Kandilli lag der nächste Friedhof weniger als fünf Gehminuten von dem Ort entfernt, an dem İkmen gerade stand und Tepe beobachtete, der seinerseits die Arbeiten im und rund um das Auto verfolgte. Vielleicht war es dieses flüchtige Nachsinnen über den Tod, das ihn in Gedanken wieder zu dem Verbrechen an Hatice İpek zurückkehren ließ.
    »Und«, begann er, wobei er seinem Untergebenen eine Zigarette anbot, »glauben Sie, dass der Konditor Hassan Şeker uns mehr über die tote Freundin meiner Tochter erzählen kann, als er es bisher getan hat?«
    Tepe nahm die angebotene Zigarette und zuckte die Achseln. »Mehr als das, was ich Ihnen gestern am Telefon erzählt habe? Nein, Inspektor. Er behauptet immer noch, das Verhältnis habe nur in den Köpfen des Mädchens und einiger anderer existiert.«
    »Zu denen auch meine Tochter gehört«, sagte İkmen finster.
    »Ja. Aber er ist bereit, eine Samenprobe abzugeben, und er scheint sich seiner Sache sehr sicher zu sein«, sagte Tepe, um nicht auf İkmens Bemerkung eingehen zu müssen.
    »Hmm.«
    »Möchten Sie, dass ich einen Spermatest anordne?«
    »Ja, Tepe, tun Sie das«, antwortete İkmen und schaute wieder hinaus aufs Wasser.
    Hülya log nicht. Nicht in diesem Punkt. Hassan Şeker war mit einem Spermatest einverstanden, weil er wahrscheinlich an dem Abend, als Hatice starb, keinen Sex mit ihr gehabt hatte. Tepe hatte Aussagen von anderen Mitarbeitern der Pastahane auf Band, die ohnehin bezeugten, dass er zum Zeitpunkt von Hatices Tod bei ihnen im Laden oder zu Hause gewesen war. Doch warum beharrte Şeker noch immer darauf, niemals eine Beziehung zu Hatice unterhalten zu haben? Natürlich würde seine Frau alles andere als begeistert sein, wenn sie es erführe, aber er war ein so wohlhabender Mann, dass sie ihn wahrscheinlich nicht verlassen würde. Es schien lächerlich, dass er sich immer noch weigerte, eine Affäre zuzugeben, die beide Beteiligten gewollt hatten, und in İkmens Augen machte es ihn verdächtig. Hassan Şeker versuchte ganz offensichtlich, sich von Hatice İpek zu distanzieren.
    Wie Hülya hatte auch Ahmet Sılay darauf bestanden, dass Şeker und Hatice eine Beziehung unterhielten, und Ahmet Sılay war einst ein enger Freund des Mannes gewesen, dessen Frau jetzt verschwunden war: Hikmet Sivas. Um jede Möglichkeit auszuschöpfen, nahm İkmen sich vor, Sivas beiläufig nach seinem Freund zu fragen und in Erfahrung zu bringen, wie vertrauenswürdig der alte Alkoholiker war. Er wollte vermeiden, dass Hülyas Aussage die einzige blieb, die der Darstellung von Hassan Şeker widersprach. Schließlich war sie jung und anfällig für die Art von Phantasien, denen sich Şeker zufolge sowohl Hatice als auch Hülya hingegeben hatten. Vielleicht, überlegte İkmen, hatten sie die Einträge in Hatices Tagebuch sogar gemeinsam geschrieben, um ihre Phantasien auszuschmücken. Er wusste, dass junge Mädchen zu solchen Handlungen fähig waren. Doch in diesem Fall erschien ihm das ausgeschlossen; schließlich war Hülya die Tochter eines Polizisten und wusste nur zu gut, was mit einem geschah, wenn man der Polizei gegenüber Geschichten erfand. Nein, Hülya hatte nicht gelogen.
    İkmen ging wieder zurück in die Villa. An der Tür zum Wohnzimmer des Filmstars traf er auf den erschöpften İskender. Sivas saß in einem Sessel und telefonierte.
    »Mit wem spricht er?«, erkundigte İkmen sich.
    »Er hat mich die ganze Zeit bedrängt, er müsse unbedingt mit seinem Agenten reden«, erwiderte İskender säuerlich, »also habe ich es ihm schließlich erlaubt.«
    İkmen zuckte die Achseln und wandte seine Aufmerksamkeit Sivas zu.
    »Ich sag es dir doch, G.«, rief der Star in nahezu akzentfreiem Amerikanisch, »mein Leben ist vorbei, es ist alles schief gegangen … ich bin im Arsch, verdammt noch mal! Ja, ja, klar sind sie

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