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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Nadel
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Auseinandersetzung gehabt, und er hatte sich von diesem Mann beschwichtigen lassen, der glaubte, er hätte ihn unter Kontrolle. Als Ardiç den Raum verließ, mit İkmen respektvoll im Schlepptau, hatte der Polizeipräsident tatsächlich das Gefühl, gewonnen zu haben. Aber so etwas war schon öfter vorgekommen, und anschließend hatte İkmen doch immer gemacht, was er wollte. Um diese Möglichkeit auszuschließen, drehte Ardiç sich noch einmal warnend zu İkmen um, bevor sie den Bereitschaftsraum betraten.
     
    Zelfa betrachtete den Säugling, der friedlich schlafend in ihren Armen lag, und spürte nichts als Verzweiflung. Natürlich war er wunderschön, und natürlich war sie überrascht, dass sie trotz ihres Alters ein so vollkommenes Kind zur Welt gebracht hatte. Aber sie konnte nichts für ihren Sohn empfinden. Sie nahm seine Anwesenheit genauso hin wie sie den Schlauch in ihrem Bauch akzeptierte, über den Gewebeflüssigkeit aus der Operationsnarbe abfloss: wie einen Gegenstand, der zum Krankenhaus gehörte. Sie wusste zwar, dass der kleine Yusuf İzzeddin sie im Gegensatz zu dem Schlauch nach Hause begleiten würde, aber eigentlich wollte sie das gar nicht. Ihr Bauch, der nie richtig flach gewesen war, sah jetzt aus wie ein riesiger Ballon, aus dem man die Luft abgelassen hatte – schlaff und faltig. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen man ihr erlaubt hatte aufzustehen – hier herrschten noch recht altmodische Ansichten zur Bettruhe –, hatte sie gespürt, wie die schlaffe, schweißfeuchte Haut ihre Oberschenkel berührte.
    Und das hatte ihr Yusuf İzzeddin, ihr Kind, angetan. Natürlich sagte ihr der Verstand, dass er daran keine Schuld trug, dass vielmehr sie selbst und ihr Ehemann dafür verantwortlich waren. Aber Mehmet konnte sie nicht die Schuld geben, weil sie ihn liebte, und sich selbst die Schuld zuzuweisen … also, das war doch nun wirklich falsch. Selbstvorwürfe waren sinnlos – das erzählte sie jedenfalls immer ihren Patienten. Das Leben war zu kurz für Selbstvorwürfe. Einen Moment lang überlegte Zelfa, ob es sich bei ihrem Zustand um eine postnatale Depression handeln könnte, aber sie schob den Gedanken genauso schnell wieder beiseite, wie er gekommen war. Es erschien ihr einfach absurd, ihre Gefühle in diesem frühen Stadium der Mutterschaft bereits als behandlungsbedürftige Erkrankung zu klassifizieren. Andererseits bestand kein Zweifel daran, dass sie sich einfach elend fühlte. Zwar gelang es ihr, sich zusammenzureißen, wenn ihr Mann sie besuchte, doch sobald er die Tür hinter sich schloss, fing sie hemmungslos an zu weinen. Ihr Vater wusste von ihren Gefühlen, war ihr aber, was vollkommen untypisch für ihn war, keine große Hilfe. Aber das lag wahrscheinlich an ihren Tanten.
    Babur Halman hatte zwei Schwestern, Alev und Zehra, die beide älter und wesentlich direkter waren als ihr Bruder. Sie hielten an alten Traditionen und religiösen Bräuchen fest, die Babur während seiner Zeit in Irland größtenteils abgelegt oder vergessen hatte, und instruierten Zelfa umgehend, wie man mit einem Neugeborenen umzugehen habe. Trotz der sommerlichen Hitze mit Temperaturen von über fünfundvierzig Grad müsse das Kind vor Zugluft geschützt und möglichst fest gewickelt werden. Eine Aufgabe, die die beiden Schwestern ohne Rücksicht auf Zelfa selbst übernahmen, während sie ihre Nichte gleichzeitig ermahnten, sie dürfe nach ihrer Entlassung mit dem kleinen Yusuf İzzeddin mindestens einen Monat lang nicht das Haus verlassen. Denn während der ersten vierzig Lebenstage seien Säuglinge besonders empfänglich für alle möglichen bösen Einflüsse.
    Und Zelfas Vater, seines Zeichens Kinderarzt, sagte kein Wort zu alledem. Auch als die grässliche alte Hexe von Schwiegermutter Zelfa erklärte, die Geburtsanzeige für den kleinen Yusuf İzzeddin in den Zeitungen habe diskret und geschmackvoll zu sein, wusste Zelfa genau, worum es ihr wirklich ging: Zu viel Prahlerei zog den »bösen Blick« an, was für das Kind großes Unglück bedeuten konnte. Aber Nur Süleyman war auch nur einfacher, bäuerlicher Herkunft und glaubte ebenso wie Alev und Zehra fest an diese lächerlichen Bräuche. Babur Halman hingegen war gebildet, weit gereist und vernunftorientiert, weshalb es keine Entschuldigung für sein Verhalten gab und seine Tochter sehr verärgert über ihn war.
    Zelfa wusste, wenn sich ihre Verfassung nicht bald änderte, würde sie damit beginnen müssen, Antidepressiva zu nehmen. Sie

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