Im Gewand der Nacht
Ausland, vor allem nach Deutschland und England. Einige dieser Familien waren derart beweglich, dass Informanten wie Ratte – wenn man ihnen auf die Schliche kam – nie sicher sein konnten, wer ihre Peiniger waren. Außerdem kam immer wieder das Gerücht auf, einige der Familien zahlten beträchtliche Bestechungsgelder an hohe Beamte bei der Polizei. İkmen seufzte. Falls die Mafia bei der von Ratte beschriebenen Form der Prostitution wirklich ihre Finger im Spiel hatte, sah das Ganze noch wesentlich düsterer aus, als bisher angenommen. Und genau deswegen hatte Hatice İpek wahrscheinlich ihr Leben verloren »Wenn es sich also tatsächlich um eine Sache der Familien handelt, warum gehst du dann das Risiko ein, mit mir zu reden, Ratte?«, fragte İkmen.
»Wie Sie wissen, Çetin Bey, helfe ich nun mal gerne.«
»Ach, komm schon, Ratte! Erspar mir den üblichen Sermon! Du bist ein ziemlich großes Risiko eingegangen.«
»Ich brauche zweihundert Millionen Lira, damit ich meine Miete zahlen kann.« Ratte ließ den Kopf auf die Brust sinken. »Ich brauch das Geld noch heute.«
»So viel hab ich nicht«, sagte İkmen. »Außerdem, wenn ich jedem Geld geben würde, der mit ein paar Gerüchten ankommt …«
»Das ist alles wahr!«
»Vielleicht. Aber solange du mir nicht sagst, von wem du die Informationen hast …«
»Ich kann nicht!«
İkmen zuckte die Achseln. »Dann wirst du dich wohl daran gewöhnen müssen, auf der Straße zu schlafen. Du ernährst dich ja sowieso schon aus Mülltonnen. Jetzt wirst du halt auch darin schlafen müssen.« Dann wandte er sich ab und ging zum Eingang seines Mietshauses. Als er gerade die Haustür aufschließen wollte, hörte er Rattes Stimme hinter sich.
»Die beiden Schneiderinnen, diese Heper-Schwestern aus Üsküdar, die wissen mehr.«
Die Frauen, die das Kleid in Lazars Werkstatt angefertigt und möglicherweise auch Hatices Gewand genäht hatten. Allerdings konnte İkmen sich kaum vorstellen, was die beiden schneidernden Töchter eines alten Generals mit Prostitution und Mafia zu tun haben sollten. Doch seit Hatices Tod war dies bereits das zweite Mal, dass er einen Hinweis auf Fräulein Muazzez und Fräulein Yümniye Heper erhalten hatte. Daher schenkte er Rattes Aussage Beachtung, auch wenn es ihm noch so unwahrscheinlich vorkam, dass sein Informant irgendetwas mit den beiden Frauen zu schaffen hatte.
İkmen zog sein Portemonnaie aus der Tasche und ließ Geldscheine im Wert von fünfzig Millionen Lira auf den Boden fallen.
»Für den Rest musst du deinen Arsch an einen Blinden verkaufen«, sagte er und schob sich durch die Tür in die kühle Eingangshalle.
Nach seinem üblichen Abendanruf bei Fatma machte İkmen sich ein Glas Tee und ging damit hinaus auf den Balkon. Bülent hatte einen Zettel hinterlassen, auf dem stand, dass er mit seinem Freund Sami unterwegs sei. Da Hülya inzwischen wieder in der Pastahane arbeitete, hatte İkmen die Wohnung zumindest vorübergehend ganz für sich und konnte in Ruhe nachdenken.
Natürlich war er nicht allzu glücklich darüber, dass seine Tochter wieder Seite an Seite mit Hassan Şeker arbeitete, aber sie hatte darauf bestanden, wieder an ihre Arbeitsstelle zurückzukehren, auch wenn es ihr alles andere als leicht fiel. Angeblich brauchte sie unbedingt neue Sachen zum Anziehen, wahrscheinlich, um Berekiah Cohen zu gefallen. İkmen würde sie später abholen und nach Hause begleiten, um sich zu vergewissern, dass nichts Außergewöhnliches vorgefallen war. Allerdings schien ihm das ziemlich unwahrscheinlich, solange Hassan wusste, dass er unter Verdacht stand.
İkmen hatte einen seltsamen Tag hinter sich. Es war nicht eben leicht gewesen, Hikmet Sivas zum Sprechen zu bringen, und ebenso wie İskender war auch er inzwischen fest davon überzeugt, dass sich hinter der mangelnden Kooperationsbereitschaft und dem merkwürdigen Verhalten des Schauspielers – unter anderem seiner Schwester gegenüber – irgendetwas verbarg. Allerdings konnte er nicht sagen, ob dies mit Kaycees Verschwinden zusammenhing. Vielleicht wollte Sivas seine hübsche junge Frau aus irgendeinem Grund aus dem Weg schaffen und hatte ihre Entführung schon lange vor seiner Rückkehr in die Heimat geplant. Schließlich war es kein Geheimnis, dass viele Amerikaner alle ausländischen Polizisten für einfältig hielten, und Sivas machte diesbezüglich, wie İkmen inzwischen wusste, keine Ausnahme. Es konnte also durchaus sein, dass ihm die Idee gekommen war,
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