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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Nadel
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wie vor ein Filmstar, aber einer, dessen beste Zeit lange zurücklag und der von Glück sagen konnte, dass er immer noch so wohlhabend war. Nicht alle alten Hollywoodstars konnten das von sich behaupten, zumindest hatte İkmen mal so was gelesen. Fehlinvestitionen, Drogen, Alkohol, Exfrauen und die Habgier falscher Freunde hatten viele von ihnen ruiniert. Aber seine hübsche junge Frau und seine Häuser in Los Angeles und New York, auf Hawaii und in Istanbul ließen darauf schließen, dass Hikmet Sivas das in den sechziger und siebziger Jahren verdiente Geld gewinnbringend angelegt hatte.
    »Und weder Sie noch Ihre Frau haben irgendwelche Feinde?«, hakte İkmen nach.
    »Nicht dass ich wüsste. Hören Sie«, sagte Sivas und warf dem unglücklichen Çöktin erneut einen wütenden Blick zu, »ich muss jetzt wirklich meinen Agenten anrufen.«
    İkmen überhörte diesen Satz. »Und es gab auch keine Schwierigkeiten zwischen Ihnen und Ihrer Frau?«
    »Nein!«, explodierte Sivas erneut. »Und bevor Sie jetzt anfangen, darüber nachzudenken, ob meine Frau diese Entführung vielleicht selbst arrangiert haben könnte, um sich mit einem hübschen jungen türkischen Liebhaber davonzumachen, sollten Sie daran denken, dass sie noch nie zuvor in diesem Land war!«
    »Herr Sivas, ich …«
    »Ich weiß nicht, warum man Kaycee entführt hat!«, brüllte er. »Ich habe keine Ahnung …«
    »Es ist geschehen, weil es so geschrieben steht.«
    İkmen drehte sich in Richtung der Stimme und entdeckte eine kleine Frau, die mit einem Tablett voller Teegläser den Raum betrat. Sie musste etwa siebzig Jahre alt sein, obwohl ihr strenges Gesicht noch relativ glatt wirkte. Und als hätten ihre Worte nicht schon genug verraten, bestätigten ihr dunkles Gewand und das schlichte braune Kopftuch den Eindruck, dass es sich um eine tiefgläubige Frau handelte. Hikmet Sivas ging eilig zu ihr hinüber, während sie das Tablett auf einem der Beistelltische abstellte.
    »Oh Hale, mein Herz«, sagte er, »ich weiß, was du denkst, aber bitte nicht jetzt, liebe Schwester. Bitte sag solche Dinge nicht jetzt!«
    »Wenn du dein Leben nicht nach den Gesetzen des Korans lebst, was erwartest du da? Hm?«
    »Hale …«
    »Auf Filmsets herumlaufen, umgeben von nackten Frauen! Leben wie ein Amerikaner! Schnaps und Huren und für die Juden arbeiten!«
    »Hale, ich weiß, dass ich es nicht wert bin, dir das Wasser zu reichen.«
    Die Frau schnaubte nur und forderte die Polizisten mit einem Kopfnicken auf, sich von dem Tee selbst zu bedienen. Dann verließ sie den Raum. İkmen hatte mit Interesse verfolgt, wie Hikmet Sivas sich vor seiner Schwester öffentlich demütigte. Entweder fühlte er sich ihr gegenüber schuldig, oder er hatte ihr aus irgendeinem Grund sehr viel zu verdanken. Was es auch immer war, İkmen fand das kleine Zwischenspiel, dessen Zeuge er soeben geworden war, überraschend und erhellend zugleich. Anscheinend hatte Hikmet Sivas weder die Gesetze seines Heimatlandes vergessen noch die traditionellen Formeln, die aus osmanischer Zeit stammten und darüber Auskunft gaben, welche soziale und moralische Stellung ein Mensch gegenüber einem anderen einnahm. Denn indem sie nicht auf ihres Bruders Eingeständnis der eigenen Minderwertigkeit eingegangen war, hatte Hale Sivas unmissverständlich klar gemacht, dass sie ihrer Meinung nach tatsächlich weit über ihm stand. Eigenartig, wenn man bedachte, dass er der Reiche und Berühmte in der Familie war, der erfolgreiche Verwandte, den die meisten Familien ungeachtet seiner Verfehlungen in den Himmel heben würden.
    Çöktin und der für die Aufnahmeapparatur verantwortliche Techniker standen auf, gesellten sich zu İskender, der gerade zurückgekehrt war, und tranken ein Glas Tee. In der Annahme, dass Hikmet Sivas einige Zeit brauchen würde, um seine Gedanken zu sammeln, verließ İkmen den Raum und ging nach draußen. Das Auto, an dessen Steuer Vedat Sivas bei Kaycees Entführung gesessen hatte, wurde gerade von einem Team der Spurensicherung untersucht. İkmen hatte Tepe, der an diesem Morgen ungewöhnlich still wirkte, die Oberaufsicht übertragen.
    Vor der Villa blieb İkmen einen Augenblick stehen und beobachtete, wie sich das mittägliche Sonnenlicht auf der spiegelglatten Oberfläche des Bosporus brach. Diese Seite der Stadt, wenn auch nicht dieses Viertel, war immer noch seine Heimat. Als Kind hatte er Istanbul stets aus dieser Perspektive betrachtet. Die prächtigen Moscheen lagen jenseits des

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