Im Gewand der Nacht
sein.«
Yümniye blickte ihren Gast fragend an.
İkmen griff in die Tasche und zog das Kleid heraus, so dass sich der Rock wie ein Fächer über den Boden ausbreitete.
»Hmm.« Yümniye Heper runzelte die Stirn. »Ja, er könnte Recht haben.«
»Ist es von uns?«
»Vielleicht.« Yümniye hob den Saum des Rocks an, um die Naht genauer zu betrachten. »Allerdings müssten wir es vor ziemlich langer Zeit gemacht haben. Es ist aus marmoriertem Satin«, sagte sie und blickte in die stumpfen Augen ihrer Schwester. »Cremeweiß und Rosa, inzwischen jedoch recht verblasst.«
»Und der Stil?«
Yümniyes Augen und Hände wanderten über das Kleid bis hinauf zu den Ärmeln. »Ein osmanisches Brautkleid, mit diesen winzigen Stoffrosen besetzt, die früher so beliebt waren. Du hast sie immer aus grünem Tüll genäht und …«
»Nein, keine Rosen.«
Yümniye blickte überrascht auf. Muazzez hatte sich abgewandt, so dass ihr Gesicht, dessen ausdrucksstarkes Profil durch das Licht von der Terrassentür noch betont wurde, in Richtung des alten Kamins in der Ecke des Raums zeigte.
»Muazzez«, setzte Yümniye an, »ich glaube …«
»Ich habe Tulpen gefertigt. Die Tulpe ist eine osmanische Blüte. Rosen wären unpassend gewesen. Wenn das Kleid mit Rosen besetzt ist, kann es nicht von uns sein …«
»Aber …«
»Kein Aber. Das Kleid stammt nicht aus unserer Werkstatt, Yümniye. Die Rosen sagen mir, dass es nicht von uns sein kann.« Muazzez drückte ihre Zigarette aus und steckte sich sofort die nächste an. »Du vergisst so was schon mal. Ich nicht. Verstehst du?«
Yümniye zuckte nur die Achseln, legte das Kleid auf die Tasche zurück und sah İkmen an. »Also, ich hätte schwören können, dass wir es genäht haben. Aber wenn Muazzez anderer Meinung ist …«
»Meiner armen Schwester ergeht es wie unserem Vater früher«, erklärte Muazzez. »Sie ist sehr schnell verwirrt.«
İkmen seufzte. »Ich verstehe.« Dann blickte er Yümniye an und meinte: »Das tut mir sehr Leid, Fräulein Yümniye.«
Yümniye lächelte nur. Die Geschichte von General Heper und seinem geistigen Verfall war allgemein bekannt. Manche behaupteten, der Zustand sei durch den Tod seiner zweiten Frau ausgelöst worden, als Muazzez gerade zwölf Jahre alt war; anderen Gerüchten zufolge waren seine Erlebnisse während des Ersten Weltkriegs und des Unabhängigkeitskriegs die Ursache für seine Demenz, und wieder andere behaupteten, es habe an den Genen gelegen. Tatsache war, dass bei General Heper zu Beginn der fünfziger Jahre eine Demenzerkrankung auftrat, die dazu führte, dass er sich 1960 vollkommen aus dem öffentlichen Leben zurückzog. Bis zu seinem Tod im Jahr 1973 kümmerten sich seine beiden Töchter liebevoll um ihn. Er bekam die besten Medikamente, die man für Geld kaufen konnte, und dank ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten im Umgang mit Nadel und Faden gelang es den Töchtern, dem Vermieter ihres Vaters das Haus abzukaufen, in dem sie wohnten – wodurch sie sowohl seine als auch ihre eigene Zukunft sicherten. Allerdings hatte sich das Blatt inzwischen anscheinend gewendet: Aufgrund von Muazzez’ Erblindung und Yümniyes frühem Stadium der Demenz benötigten sie wahrscheinlich mehr Geld, als sie selbst noch verdienen konnten. Schließlich hatten die beiden Schwestern niemanden außer sich selbst. Plötzlich überkam İkmen ein Anfall von schlechtem Gewissen, dass er sie mit diesen Fragen belästigte. Denn obwohl Muazzez sich wieder beruhigt hatte, war sie sehr verärgert gewesen, als ihre Schwester ihr im Hinblick auf die Rosen widersprach – sie hatte sich nicht nur körperlich abgewandt. Die Tatsache, dass die Schwestern vor nicht allzu langer Zeit ein ähnliches Kleid im osmanischen Stil angefertigt hatten, das mit Stoffrosen übersät war, hatte İkmen zwar nicht vergessen, doch er wollte jetzt lieber nicht näher darauf eingehen.
»Dürfen wir erfahren, warum du dich für dieses Kleid interessierst, Çetin?«, fragte Yümniye und unterbrach damit İkmens Gedanken.
»Es hat mit einem Fall zu tun, an dem ich arbeite«, erwiderte er, während er das Kleid zusammenlegte und wieder in die Tasche schob.
»Oh, dann steht es in irgendeiner Beziehung zu Hikmet Sivas. Und zum Verschwinden seiner Frau.« Yümniye lächelte aufgeregt. »Ich habe dich im Fernsehen gesehen, im Hintergrund. Irgendein anderer Beamter hat zwar gesprochen, aber ich wusste, dass du das im Hintergrund warst. Ich glaube, es war vor ein paar Tagen oder
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