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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Nadel
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vielleicht auch erst gestern. Arbeitest du noch an dem Fall?«
    »Das Kleid kann überhaupt nichts damit zu tun haben!«, fuhr Muazzez sie an und wandte sich erneut ab. »Diese Frau ist Amerikanerin. Sie würde doch kein osmanisches Kleid tragen.«
    »Ja, vielleicht, aber wenn Çetin mehr darüber weiß als wir …«
    »Fräulein Muazzez hat Recht«, sagte İkmen zu Yümniye und lächelte dann zu Muazzez hinüber. »Das Kleid hat nichts mit den Ermittlungen in dem Entführungsfall zu tun.« Er dachte einen Moment lang darüber nach, ob er ihnen – oder vielmehr Muazzez – die Wahrheit sagen sollte. Dann entschied er sich dafür: »Ein junges Mädchen, von dem wir annehmen, dass es zur Prostitution gezwungen wurde, starb in diesem Kleid.«
    »Wirklich?«
    »Ja.«
    »Wie schrecklich.«
    Aber İkmen konnte Muazzez’ Gesichtsausdruck nicht sehen, denn sie hatte sich in ihrem Sessel fast vollständig zur Seite gedreht. Während Yümniye unbekümmert weiterplapperte, wie schlimm es doch um ihre Stadt bestellt sei und wie skandalös sie es finde, dass junge Frauen noch immer Opfer solch furchtbarer Machenschaften würden, beobachtete İkmen Muazzez. Er war sich sicher, dass sie seinen durchdringenden Blick auf ihrem Rücken spürte. Als er noch ein Kind war, hatte sie immer davon gesprochen, wie intelligent er sei; offenbar hatte ihr das Vergnügen bereitet. Genau hier in diesem Raum las er ihr im Alter von nur vier Jahren einmal aus einem englischen Gedichtband vor. Schon damals war seine Stimme ungewöhnlich tief, und Muazzez gab ihm zur Belohnung die köstlichste Schokolade, die er je gegessen hatte. Und die aus Paris stammte, wie sie ihm versicherte. Damals war er unglaublich beeindruckt gewesen. Heute allerdings schien seine Anwesenheit sie zu beunruhigen. Oder vielmehr das Thema, über das sie sprachen: die Herkunft von Hatice İpeks mit Rosen besetztem Gewand. Er fragte sich, warum Muazzez so vehement bestritt, es genäht zu haben. Dennoch hatte sie erstaunlicherweise entsetzt reagiert, als er vom letzten Abenteuer des Kleides sprach. Und da die Heper-Schwestern nicht zu der Art von Frauen zählten, die bei der Erwähnung unfeiner Ausdrücke zusammenzucken, konnte İkmen nur zu der Schlussfolgerung kommen, dass der Zusammenhang zwischen dem Kleid und der erzwungenen Prostitution Muazzez veranlasst hatte, sich von ihm abzuwenden. Vielleicht war ja doch etwas Wahres an dem, was diese miese kleine Ratte ihm in Sultanahmet erzählt hatte – vielleicht wussten die Heper-Schwestern tatsächlich etwas.
    »Sind Sie wirklich ganz sicher, dass Sie dieses Kleid nicht genäht haben?«, fragte İkmen an beide Schwestern gewandt.
    »Es ist weder ein Verbrechen noch eine Schande, Kleidung für Professionelle herzustellen.«
    »Also, ich glaube …«
    »Yümniye, wir haben niemals irgendetwas mit Rosen gemacht! Rosen sind gewöhnlich – jeder kann sie herstellen!«
    Muazzez’ wandte ihnen ihr Gesicht wieder zu; es war jetzt leichenblass, und in einem Winkel ihres linken Auges schimmerte eine kleine Träne. »Ich habe dir schon gesagt, dass wir nichts über dieses Kleid wissen, Çetin, und daran wird sich auch nichts ändern.«
    Während der nun einsetzenden Stille trank İkmen seinen Tee aus und zündete sich eine Zigarette an. Dann begann er ein höfliches Gespräch über alle möglichen unverfänglichen Themen und verließ etwa eine halbe Stunde später das Haus.
    Beunruhigt und verwirrt, schlurfte er zu seinem Wagen, den er in einer Straße an der Rückseite des Grundstücks geparkt hatte. Konnte es wirklich sein, dass die Heper-Schwestern etwas mit Hatices Vergewaltigern zu tun hatten? Und wenn nicht, warum hatte Muazzez dann so verzweifelt darauf bestanden, dass sie und ihre Schwester nichts mit dem Kleid zu tun hatten? Und was noch verwirrender war: Warum hatte sie ihn überhaupt dazu gebracht, von Hatice zu erzählen? Sie hätte doch einfach Yümniye über eine Verbindung zum Fall Hikmet Sivas weiterreden und es dabei belassen können.
    Als er den von Unkraut gesäumten Weg entlangging, der neben dem Garten der Hepers verlief, drehte İkmen sich noch einmal zum Haus um. Yümniye und Muazzez standen hinter der geschlossenen Terrassentür und stritten lauthals miteinander. Und die rothaarige Frau, die er bei seiner Ankunft gesehen hatte, lehnte noch immer an der Pforte und starrte ihn unverwandt an.
     
    Mit der untergehenden Sonne kamen ganze Schwärme von Kunden in die Pastahane. Obwohl die Konditorei auch tagsüber gut

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