Im Gewand der Nacht
İkmen von Lazar, dem Goldschmied, dass Fräulein Muazzez erblindet war.
»Çetin İkmen!«, rief sie, und ein Lächeln glitt über ihr gealtertes, jedoch immer noch schönes Gesicht. »Das ist aber eine Überraschung!«
Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, İkmen ergriff sie, und sie schüttelten sich die Hände wie zwei europäische Männer. Yümniyes Händedruck war fest, auch wenn İkmen ganz deutlich die Verdickungen an den Gelenken spürte. Arthritis, das »Geschenk« der rauen Winter Istanbuls. Auch sein Vater hatte darunter zu leiden gehabt.
Nachdem sie sich traditionsgemäß nach seiner Gesundheit und der Gesundheit seiner Familie erkundigt hatte, führte Yümniye Heper İkmen in ein großes Zimmer im hinteren Teil des Hauses, das mit zahlreichen bequemen Diwans und wunderschönen, wenn auch verblichenen Teppichen ausgestattet war. Sie bot ihm einen Platz auf dem komfortabelsten Sofa an, brachte ihm einen Aschenbecher und ging hinaus, um ihre Schwester zu holen, die noch in der Schneiderwerkstatt saß. Während Yümniyes Abwesenheit überlegte İkmen, wie er das Gespräch auf das Kleid bringen konnte, das Arto Sarkissian ihm freundlicherweise und unter hohem eigenen Risiko zur Verfügung gestellt hatte. İkmen kannte den Raum, in dem er sich befand. Der Salon, wie der alte General ihn immer genannt hatte, sah noch genauso aus wie zu dessen Lebzeiten. Bis zum Tode seiner Mutter, als er erst zehn Jahre alt war, kamen İkmen und sein Bruder Halil regelmäßig ins Haus der Hepers: Hier nahm man Maß für ihre kleinen Anzüge, die sie bei Hochzeiten und Beschneidungen trugen sowie bei den gelegentlichen Feiern, die ihr Vater für die Mitglieder seiner Fakultät gab. Hin und wieder, so erinnerte İkmen sich, steckte General Heper, der seine noble Herkunft nicht verleugnen konnte, in solchen Momenten den Kopf durch die Tür und sagte etwas auf Französisch.
»Es ist sehr lange her, dass unser werter Herr Inspektor das letzte Mal in diesem Zimmer saß«, sagte Yümniye Heper, als sie den Raum zusammen mit ihrer Schwester betrat – einer eleganten, ein wenig jüngeren Ausgabe ihrer selbst.
»Das stimmt.« Muazzez Heper lächelte, und ihre Augen bewegten sich so, als könnte sie immer noch sehen. Doch als sie İkmen ansprach, wurde deutlich, dass sie ihr Augenlicht verloren hatte. Während Yümniye ihre Schwester zu einem Sessel führte, der bei der Terrassentür stand, redete die ganz in Leder gekleidete Muazzez mit ihrem Gast, als säße er vor dem Kamin. Erst als sie seine Stimme hörte, wandte sie ihm ihr Gesicht zu.
»Was führt dich über das Wasser nach Üsküdar, Çetin?«, fragte sie, als ihre Schwester den Raum verlassen hatte, um Tee zuzubereiten und all die Süßigkeiten zu holen, die ein solcher Gast ihrer Meinung nach verdiente.
İkmen lächelte. Auch ohne Augenlicht ahnte Muazzez Heper, die immer die direktere und »europäischere« der beiden Schwestern gewesen war, dass es sich hier nicht um einen Höflichkeitsbesuch handelte. Schließlich hatte İkmen sie nur noch drei oder vier Mal aufgesucht, seit er Ende der sechziger Jahre zur Polizei gegangen war. Kurz danach war er mit seiner jungen Frau und seinem kleinen Sohn Sınan über den Bosporus nach Sultanahmet gezogen. Dort hatte er Karriere gemacht und Üsküdar und die Bitterkeit über den Tod seiner Mutter im Jahre 1957 hinter sich gelassen.
»Ich bin hergekommen, um Ihnen ein Kleid zu zeigen, Fräulein Muazzez«, sagte er.
»Ach ja?« Sie holte ein Päckchen Zigaretten aus einer ihrer Hosentaschen und zündete sich eine an. »Warum?«
İkmen beugte sich hinunter und öffnete die Tasche. »Weil es sein könnte, dass Sie und Ihre Schwester es genäht haben. Allerdings müsste das schon eine Weile her sein, das Kleid ist etwas älter.«
»Gut möglich.« Sie zuckte die Achseln. »Welche Farbe hat es? Welchen Schnitt?«
»Es ähnelt einem Kleid, das Sie meines Wissens vor kurzem für eine reiche Braut angefertigt haben«, erwiderte İkmen.
» Osmanischer Stil des 19. Jahrhunderts. Ich habe das betreffende Kleid bei Lazar in der Kapalı Çarşı gesehen.«
Yümniye betrat den Raum mit einem Tablett voller Teegläser und Unterteller, auf denen Lokum und Konfekt lagen. Sie stellte es auf einen Tisch, der zwischen den Diwanen stand, bediente İkmen und ihre Schwester und setzte sich dann neben İkmen.
Muazzez Heper brach als Erste das Schweigen. »Çetin hat ein Kleid, das er uns zeigen will, Yümniye. Er meint, es könnte eins von unseren
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