Im Hauch des Abendwindes
Wohnungstüren wurden geöffnet, und die Mieter streckten mit unverhohlener Neugier ihre Köpfe heraus. Gavin machte ein Gesicht, als wünschte er, die Erde würde sich auftun und ihn verschlucken. »Ich dachte, das solltest du wissen, weil es sich um eine hochgradig ansteckende Krankheit handelt. Du kannst ja offenbar deinen Hosenstall nicht zulassen«, fuhr Ruby unbekümmert fort. Sie wusste, dass sie mit dieser Bemerkung ihren eigenen Ruf aufs Spiel setzte, doch das war ihr gleichgültig. Sollten die Leute ruhig tratschen. Sie würde auf keinen Fall zulassen, dass Gavin wie ein Sexbolzen dastand, der jede Frau bekommen konnte, und sie wie die arme kleine graue Maus, die nicht fähig war, ihren Freund bei der Stange zu halten. Und wenn sie mit dieser Aktion obendrein einen Keil zwischen ihn und Chrissie trieb, umso besser.
Die Blondine fuhr herum und redete gedämpft, aber sichtlich erregt auf Gavin ein, der sich verzweifelt zu verteidigen versuchte und allem Anschein nach beteuerte, er habe nicht die geringste Ahnung, wovon Ruby spreche. Chrissie ließ sich jedoch nicht besänftigen. Nach einem letzten lautstarken Wutausbruch stapfte sie zornig davon.
Ruby triumphierte im Stillen. Eigentlich hatte sie erwartet, dass Gavin sie bitten würde heraufzukommen, damit er sich rechtfertigen konnte, aber er stand nur da und starrte bitter enttäuscht und tödlich gekränkt zu ihr hinunter. Da wurde ihr klar, dass sie ihn überhaupt nicht kannte. Wie hatte sie nur so dumm sein können?
»Was ist denn in dich gefahren?«, rief er ihr vorwurfsvoll zu. »Warum erzählst du solche Lügen? Du weißt doch, dass das nicht stimmt!«
Vor den Nachbarn sein Gesicht zu wahren war ihm offensichtlich wichtiger als alles andere. Ruby konnte es nicht fassen.
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Wir wollten heiraten, und jetzt erwische ich dich mit einer anderen, und mehr fällt dir nicht dazu ein?«
Sie hätte auch sagen können: Du hast mich betrogen, hast mich zum Gespött der Leute gemacht, und dich interessiert nur, was andere von dir denken mögen. Doch ihr Stolz verbot ihr, sich als Opfer hinzustellen.
Ruby blickte sich um. »Habt ihr das alle mitgekriegt? Lasst lieber die Finger von diesem Kerl, wenn ihr euch nichts einfangen wollt«, rief sie den Frauen zu.
Dann wandte sie sich um, reckte trotzig das Kinn in die Höhe und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie hörte, wie Diane lachte. »Dem haben Sie’s aber gegeben! Gut gemacht, Schätzchen!«, rief sie ihr nach.
Kaum war sie außer Sichtweite, kullerten Ruby die Tränen übers Gesicht. Das war mit Abstand der schlimmste Tag ihres Lebens. Am Morgen hatte sie noch eine Arbeit gehabt, die ihr Spaß machte, und von ihrer Zukunft an der Seite des Mannes, den sie liebte, geträumt. Und jetzt hatte sie gar nichts mehr. Sie war völlig am Boden zerstört. Ruby lief auf dem direkten Weg nach Hause, um sich bei ihrer Mutter ausweinen zu können.
Doch Emily gab keine Antwort, als sie die Wohnungstür aufschloss und nach ihr rief. Ruby schaute in der Küche nach, aber auch da war sie nicht. Wahrscheinlich besuchte sie eine Nachbarin. Enttäuscht, weil sie ihren Kummer nicht loswerden konnte, setzte Ruby den Teekessel auf und nahm die Flasche Brandy aus dem Küchenschrank. Sie schenkte sich einen kräftigen Schluck ein und kippte ihn hinunter. Als ihr der Alkohol wie flüssiges Feuer durch die Kehle rann, verzog sie das Gesicht, aber danach fühlte sie sich besser. Ruby atmete tief durch.
Plötzlich hörte sie ein Stöhnen aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter am Ende des Flurs. Verwundert stellte sie ihre Tasse ab und trat auf den Gang hinaus. Ihre Mutter saß seltsam starr auf ihrem Bett.
»Mom! Ich dachte, du wärst gar nicht da. Du glaubst nicht, was mir heute alles passiert ist«, sprudelte es aus ihr heraus. Als Ruby auf Emily zuging, sah sie, dass diese völlig verstört wirkte. »Mom? Hast du mich denn nicht rufen hören?«
Emily blickte verwirrt auf. »Entschuldige«, murmelte sie.
»Stimmt was nicht?« Ruby blieb in der Tür stehen. »Du machst so einen zerfahrenen Eindruck.« So niedergeschlagen und abwesend kannte sie ihre sonst immer fröhliche Mutter gar nicht. Doch jetzt, da sie darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass Emily schon seit ein paar Tagen irgendwie anders als sonst war.
»Ich muss mit dir reden, Ruby«, sagte sie dumpf.
Rubys Blick fiel auf die Zeitung, die neben ihrer Mutter auf dem Bett lag. Sydney nimmt Abschied von einem seiner
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