Im Hauch des Abendwindes
einflussreichsten Bürger, lautete die Schlagzeile auf der Titelseite.
»Ja, ich mit dir auch.«
Emily ließ sie nicht weiterreden. »Das ist wirklich wichtig, Ruby.«
»Was ist denn passiert?«
»Es kann sein, dass wir ausziehen müssen. Noch ist es nicht sicher, aber ich dachte, du solltest darauf vorbereitet sein.«
»Was? Aber wieso denn? Ist das Haus verkauft worden? Oder ist das Geld von Dads Versicherung aufgebraucht?«
Emily machte ein verlegenes Gesicht. »Ich bin nicht ehrlich zu dir gewesen, Ruby.« Sie sah ihre Tochter ernst an. »Es gab nie Geld aus einer Versicherung.«
Ruby schüttelte benommen den Kopf. Jetzt begriff sie überhaupt nichts mehr. Ihre Mutter hatte nie gearbeitet. Ihr Vater habe eine Lebensversicherung abgeschlossen, hatte sie ihrer Tochter immer erzählt, und von dem Geld bezahle sie die Miete und ihren Lebensunterhalt. Wenn es keine Versicherung gab, woher stammte dann das Geld?
»Ich habe dir nie die Wahrheit über deinen Vater erzählt«, fuhr Emily leise fort. »Es tut mir leid, Ruby, aber ich hatte meine Gründe …«
»Ich verstehe nicht, was du damit meinst.«
Ihre Mutter hatte sich stets geweigert, über ihren Vater zu reden. Ruby hatte ihre eigenen Schlüsse daraus gezogen. Sie vermutete, dass ihr Vater keines natürlichen Todes gestorben war, sondern sich umgebracht hatte, und ihre Mutter deshalb nicht darüber sprechen wollte.
»Dein Vater ist nicht gestorben, als du ein kleines Kind warst.«
»Was?« Ruby fiel aus allen Wolken. »Heißt das … heißt das, er lebt?«
Hoffnung keimte in ihr auf. Würde sie endlich, nach so vielen Jahren, ihren Vater kennenlernen? Wie oft hatte sie versucht, sich vorzustellen, was für ein Mensch er wohl gewesen war. Würde ihre Neugier endlich gestillt werden?
»Nein«, erwiderte Emily mit Tränen in den Augen. »Ich habe in der Zeitung gelesen, dass er vor drei Tagen gestorben ist.« Sie senkte den Kopf und schniefte.
Rubys Hoffnungen zerplatzten wie eine Seifenblase. »Hat er etwa im Gefängnis gesessen?« Dieser Gedanke war ihr auch schon einmal gekommen.
Emily blickte erschrocken zu ihr auf. »Um Himmels willen, nein, natürlich nicht!«
»Und warum erzählst du mir das alles jetzt, da es zu spät ist?«, fauchte Ruby gereizt. »Warum hast du es nicht einfach für dich behalten?«
Ihre Mutter hatte nie über ihren Vater gesprochen, und jetzt tat sie es nur, um ihr zu sagen, dass er tot war. Wie konnte sie so gefühllos sein?
»Weil … Da ist dieser Brief von seinem Anwalt gekommen. Wir sind zur Testamentseröffnung eingeladen.« Emily sah ihre Tochter an, als könne sie nicht glauben, dass sie in dem Testament bedacht worden waren.
Ruby riss die Augen auf. »Was? Besteht die Möglichkeit, dass er uns etwas Wertvolles hinterlassen hat?« Die Frage war vielleicht taktlos, aber nach den vielen schlechten Nachrichten hätte sie eine gute gebrauchen können.
»Ich weiß es nicht. Dein Vater hat die Miete für die Wohnung hier und Unterhalt für uns bezahlt, aber das ist jetzt natürlich vorbei. Ich habe meine Kontoauszüge schon eine Weile nicht mehr kontrolliert, vielleicht ist schon gar kein Geld mehr überwiesen worden. Was glaubst du, wie sehr mich diese Situation belastet. Ich meine, ich bin seit vielen Jahren nicht mehr berufstätig gewesen, und von deinem Gehalt können wir nicht leben.«
Das wäre ihrer Tochter gegenüber auch nicht fair gewesen. Emily wusste, dass Ruby hart arbeitete, um sich ihren Traum von einem eigenen Salon verwirklichen zu können.
»Ganz sicher nicht, mir ist heute nämlich gekündigt worden«, versetzte Ruby heftig.
»Was? Das darf doch nicht wahr sein! Barbie hat dich gefeuert?«
»Nein, sie ›lässt mich gehen‹.« Ruby schnaubte höhnisch. »Die Ladenmiete wird erhöht, deshalb kann sie mir mein Gehalt nicht mehr zahlen.«
»O Ruby, und das ausgerechnet jetzt! Der Zeitpunkt könnte nicht ungünstiger sein.«
»Kommt drauf an. Nun sag schon! Hat mein Vater Geld gehabt, das er uns hinterlassen könnte?«
»Sei nicht so herzlos, Ruby«, tadelte Emily sie traurig. Den ganzen Tag schon hatte sie ihren Erinnerungen nachgehangen.
»Er hat sich nie um mich gekümmert, warum sollte ich jetzt sentimental werden?«, gab Ruby achselzuckend zurück. Sie war sich sogar ziemlich sicher, dass sie eine Erbschaft ausschlagen würde.
»So war es nicht.«
»Wie war es dann?« Ruby hörte selbst, wie giftig ihre Stimme klang.
»Nun, wir hatten keinen persönlichen Kontakt mehr, seit du ein
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