Im Hauch des Abendwindes
Außerdem war er in Sydney ein bekannter Mann. Wie hätte es wohl ausgesehen, wenn er seine querschnittgelähmte Frau verlassen hätte? Das wäre ein gefundenes Fressen für die Presse gewesen, und das wollte er seinen Kindern nicht antun.«
Emily verstummte. Ihre Gedanken kehrten in die Vergangenheit zurück. Sie und Joe hatten sich nach dem Unfall wochenlang nicht gesehen, weil er Angst gehabt hatte, das Haus zu verlassen – Angst um seine Kinder. Wie oft war sie an seinem Haus in der Mary Street in Longueville vorbeigegangen, immer in der Hoffnung, einen Blick auf ihn zu erhaschen, damit sie wusste, dass es ihm gut ging.
»Carmel hatte massive gesundheitliche Probleme, doch das hielt sie nicht davon ab, Joe auch weiterhin zu quälen. Ehrlich gesagt gingen wir beide davon aus, dass sie nicht mehr lange zu leben hätte. Und jetzt hat sie Joe sogar noch überlebt. Was für eine traurige Ironie des Schicksals!«
»Und ich werde meinen Vater nie mehr kennenlernen«, sagte Ruby bedauernd. »Warum hat er sich eigentlich in all den Jahren nicht für mich interessiert?«, fügte sie einen Augenblick später hinzu.
»Und ob er sich für dich interessiert hat! Er hat dafür gesorgt, dass du die besten Schulen im North Shore besuchen konntest. Er hat dir deinen Tanzunterricht und deine Tennisstunden und all deine Kleider bezahlt. Früher hat er oft angerufen und sich nach dir erkundigt.« Emily war bewusst, wie lächerlich sich das alles für eine junge Frau anhören musste, die ohne Vater aufgewachsen war. Kein Geld der Welt konnte diesen Verlust aufwiegen.
»Aber er hat nie mit mir gesprochen«, erwiderte Ruby bedrückt. »Er hätte sich doch als Onkel oder so ausgeben können.«
Emilys Gesicht nahm einen abwesenden Ausdruck an. »Er sah dich das letzte Mal bei einer Schulaufführung. Du warst damals ungefähr sieben. Er stand ganz hinten und hat dich auf der Bühne beobachtet. Du hattest eine kleine Sprechrolle als einer der kleinen Helfer des Weihnachtsmannes. Weißt du noch?«
Ruby nickte. Sie konnte sich gut daran erinnern, weil sie schreckliches Lampenfieber gehabt hatte. Hätte sie doch gewusst, dass ihr Vater da gewesen war!
»Du hast wunderhübsch ausgesehen in deinem rot-grünen Kostüm und den Elfenpantoffeln mit den nach oben gebogenen Spitzen. Ich saß ganz vorn. Ich hatte Joe von der Aufführung erzählt und hielt nach ihm Ausschau. Und dann sah ich ihn, ganz hinten: Er stand da, schaute dir zu und hatte Tränen in den Augen. Ich wandte mich rasch ab, weil ich Angst hatte, ich würde gleich zu weinen anfangen, und als ich mich wieder umdrehte, war er fort. Später an diesem Abend, du warst schon im Bett, rief er an und sagte, er könne uns nicht wiedersehen. Es breche ihm das Herz, weil wir nicht zusammen sein könnten. Ich verstand ihn. Für mich brach eine Welt zusammen, aber ich musste ihn gehen lassen, um seinetwillen. Ich glaubte fest daran, dass unsere Trennung nur vorübergehend war und wir eines Tages wieder vereint wären. Diese Hoffnung war es, die mich all die Jahre aufrecht hielt.«
»Warum hast du dir nie jemand anders gesucht, Mom? Du hast dein ganzes Leben allein verbracht.«
»Ganz einfach: Joe war die Liebe meines Lebens, und ich wollte mich nicht mit dem Zweitbesten zufrieden geben.« Ihr Gesicht nahm einen zärtlichen Ausdruck an. »Außerdem hatte ich ja dich.«
Ruby seufzte. »Und ich habe vorhin die Liebe meines Lebens beim Knutschen mit Chrissie Williams erwischt.«
»Was?«
Aus Ruby sprudelte es nur so heraus. Sie erzählte ihrer Mutter, wie es kam, dass sie zu Gavin gegangen war, wo sie ihn in flagranti mit Chrissie ertappt hatte. Und wie furchtbar enttäuscht sie war. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.
»So ein Mistkerl!«, empörte sich Emily und nahm ihre Tochter in den Arm.
Ruby nickte. »Das hätte ich niemals von Gavin gedacht. Aber besser, mir sind die Augen jetzt geöffnet worden als später nach der Hochzeit.«
»So betrachtet hast du natürlich Recht. Und was hast du gemacht, als du die beiden überrascht hast?«
»Ich hätte sie am liebsten geohrfeigt, alle beide, aber ich habe mich beherrscht.« Ruby wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann lächelte sie schelmisch. »Du wirst nicht glauben, was ich getan habe.«
»Ach, Ruby, ich kenne dich doch! Du bist doch nie um eine gute Idee verlegen! Du hast doch nicht etwa eine Jacke unter dein Kleid gestopft und Chrissie erzählt, du wärst von Gavin schwanger, oder?«
Ruby lachte und trank
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