Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
nicht verstand. Dann wieder rief sie nach ihrer Mutter oder ihrem Vater. Und manchmal auch nach ihm, Noah.
Inzwischen ließ sie keinen einzigen Tropfen Urin mehr. Ihre Haut war fieberheiß und hatte eine fast zitronengelbe Färbung angenommen, und ihr Körper verströmte einen säuerlichen, harnähnlichen Geruch. Ganz ähnlich war es bei Conrad gewesen. Und bald darauf war der junge Missionar gestorben.
Noah blickte kurz auf, als Paul ihm die Hand auf die Schulter legte, dann wandte er sich wieder Isabel zu.
So vieles hatte sich für ihn unerwartet zum Guten gewendet: Er war kein Mörder. Er hatte den Holländer nicht getötet. Und dank Isabels dreister Lüge gegenüber Berthold von Faber musste er sich nicht einmal für ihre Entführung verantworten. Er war frei.
Aber was hatte er von seiner Freiheit, wenn er Isabel verlor?
*
Der Urwald war erfüllt vom würzigen Duft des frühen Abends, von Keckern und Pfeifen in den Bäumen und dem hellen Sirren der Zikaden. Im wuchernden Unterholz knackte und raschelte es. Noah kniete vor einem abgeflachten, mit Flechten bedeckten Stein. Hier war er weit genug entfernt vom Dorf und der Missionsstation, um nicht gestört zu werden.
Zwei der Missionare, Paul und Maximilian, kümmerten sich um Isabel. Paul hatte gehofft, Noah würde sich endlich ein wenig ausruhen. Aber er war nicht hier, um sich auszuruhen.
Er öffnete die Flasche Gin, die er aus dem Vorratsschuppen genommen hatte, und nahm einen tiefen Schluck. Und noch einen. Vor ihm, auf dem Stein, stand ein handtellergroßer, grob aus Holz geschnitzter Götze, den er erst vor wenigen Minuten fertiggestellt hatte und der die stilisierte Figur eines Menschen mit riesigem Kopf zeigte.
»Wir werden für sie beten«, hatte Paul gesagt, als Noah gegangen war.
Aber das taten sie nun schon seit Tagen, und Isabel ging es immer schlechter. Der Gott der Missionare konnte ihr nicht helfen. Er hatte auch Conrad nicht geholfen.
Manchmal konnten die schädigenden Geister, die sich an einen Menschen hefteten und ihn ins Totenreich ziehen wollten, durch ein Opfer besänftigt werden und sich wieder von dem Todgeweihten abwenden. Aus diesem Grund hatten die Jabim für Isabel bereits ein Schwein geschlachtet, mit speziellen Ritualpflanzen gegart und in einer feierlichen Zeremonie verspeist, hatte Sabiam ihm erzählt. Es hatte nicht gewirkt. Isabel war inzwischen in tiefe Bewusstlosigkeit gefallen.
Noah ballte seine linke Hand zur Faust, dann öffnete er sie wieder. Jetzt gab es nur noch eine Sache, die er tun konnte. Er würde sein eigenes Opfer bringen. Auf die Weise, wie es die Towei, der Stamm seines leiblichen Vaters, in solchen Fällen taten.
Er nahm einen weiteren Schluck Gin, schob sich ein Stück Holz zwischen die Zähne und legte seine linke Hand mit gespreizten Fingern auf den flachen Stein, direkt vor den Götzen. Dann griff er nach seinem Messer.
*
Brennende Hitze erfüllte sie, ihr Atem flog. Die Zeit verstrich in einem ständigen Wechsel von leichtem Dahindämmern und Schlafen. Immer wieder tauchte sie kurz aus den Tiefen des Fiebers auf, trank etwas, dann fiel sie zurück. Wachte wieder auf. Schlief wieder ein.
Einmal glaubte sie, einen Wust gedrehter schwarzer Haarsträhnen neben ihrer Hand zu sehen. War das Noah, der da neben ihrem Bett kniete, den Kopf auf die Decke gelegt? Schlief er? Sie versuchte, die Hand zu heben, wollte ihn berühren, sich vergewissern, dass er es wirklich war, aber sie war zu schwach. Erneut dämmerte sie weg.
Als sie das nächste Mal erwachte, fühlte sie sich bedeutend besser. Helligkeit blendete sie. Sie schloss die Lider. Und öffnete sie gleich darauf blinzelnd wieder.
Sie war allein. Über sich sah sie das feine Gewebe eines fadenscheinigen Moskitonetzes, sie hörte Meeresrauschen und Vogelstimmen.
Es dauerte, bis sich all ihre Eindrücke und Erinnerungen zu einem Ganzen fügten.
Moskitonetz. Wasser. Finschhafen. Evakuierung. Bertholds Haus. Kerzenflamme. Fliegende Insekten. Henriette. Berthold. Dr. Weinland. Schwarzwasserfieber. Noah.
War sie noch immer in Finschhafen?
»Hal…lo?« Ihre Stimme klang krächzend und rostig und hatte keine Kraft.
Ein Schatten bewegte sich, dann wurde das Moskitonetz hochgehoben, und der schmale braune Körper von Sabiam erschien.
» Tisa Isa!« Das dunkle Gesicht musterte sie besorgt. »Yu stap gut?«
Sie schaffte es, leicht zu nicken. Wenn Sabiam hier war, war sie dann wieder in Simbang? Bevor sie den Jungen danach fragen konnte, hatte er das
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