Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
ihn. Aus der Spitze ihres Zeigefingers quoll tatsächlich ein wenig Blut – der kräftige Vogelschnabel hatte ganze Arbeit geleistet.
»Kommen Sie, ich kümmere mich darum!«, sagte Bruder Lorenz. »Und dann zeige ich Ihnen, wo Sie wohnen werden.«
*
Die Hütte, die man ihr zur Verfügung stellte, war wie alle Gebäude hier auf Pfählen errichtet worden. Auf einer Leiter aus dünnen Baumstämmen stieg Isabel hinter Bruder Lorenz und Sabiam hinauf, die Hand mit dem verbundenen Finger raffte ihren langen Rock, mit der anderen fasste sie die Sprossen. Die beiden Räume – ein Schlaf-und ein Arbeitszimmer – waren mit Kisten und einfachen, selbstgebauten Möbeln ausgestattet und machten einen freundlicheren Eindruck, als es von außen den Anschein hatte. Es gab sogar eine schmale Veranda, auf der zwei Bambusstühle und ein kleiner Tisch standen.
Es war Conrads Hütte gewesen. Bis kurz vor seinem Tod, so erzählte Bruder Lorenz, hatte Bruder Felby hier gearbeitet und sogar begonnen, für seine junge Braut eine Ankleidekommode zu bauen.
»Es sollte eine Überraschung für Sie sein«, verriet er ihr mit traurigem Blick auf die halbfertige Konstruktion aus Bambushölzern in einer Ecke des hinteren Zimmers, in dem auch ein einfaches breites Bett mit zurückgeschlagenem Moskitonetz stand. »Er hat sich so auf Sie gefreut.«
Der aus Holzplanken bestehende Boden war mit geflochtenen Grasmatten ausgelegt, die an manchen Ecken so angefressen und löchrig aussahen, als hätte jemand daran genagt.
»Wir befinden uns hier in einem ständigen Kampf mit der tropischen Feuchtigkeit. Die Häuser halten nicht lang. Schauen Sie, hier.« Bruder Lorenz deutete in eine Ecke des Arbeitszimmers, wo die aus rohen Hölzern gezimmerte Wand feucht und aufgequollen aussah. »Das ist die Regenseite. Und was die Feuchtigkeit nicht zerstört, das erledigen die weißen Ameisen. Holzfressende Termiten«, erklärte er auf Isabels fragenden Blick. »Sie sollten daher immer darauf achten, dass die Dosen mit Wasser gefüllt sind.«
Jedes der Tischbeine stand in einer verbeulten leeren Konservendose, an denen noch Teile der Etiketten zu sehen waren. »Corned Beef«, konnte Isabel an einer lesen, und »eingel. Kürb.« auf einer anderen.
Bruder Lorenz entschuldigte sich schon bald mit dem Hinweis, er habe noch einige Sachen zu erledigen, er freue sich aber, sie nachher bei einem kleinen Abendessen wiederzusehen. Sabiam, der ihm wie ein Schatten folgte, hielt noch immer Isabels Reisetasche umklammert. Ein scheues Lächeln glitt über sein dunkles Gesicht, als sie sich bei ihm auf Deutsch fürs Tragen bedankte und ihn bat, die Tasche auf einem Stuhl abzustellen. Dann huschte er hinter Bruder Lorenz hinaus.
Lange stand Isabel am Fenster und betrachtete die kleine Lichtung mit den hohen Palmen, hinter denen die Hütten des Eingeborenendorfs zu sehen waren, dann drehte sie sich um. Sie kam sich wie ein Eindringling vor, als sie nun allein durch die beiden Räume ging, in denen sie für die nächsten Tage wohnen würde – so lange, wie sie wollte, wie Bruder Lorenz ihr versichert hatte.
Die Räume, die ursprünglich ihr neues Zuhause an Conrads Seite darstellen sollten.
Sie schluckte, als sie näher an den aus Bambus und Holzlatten gefertigten Schreibtisch trat und dort, in einem Rahmen aus dünnem Rohr, die Photographie entdeckte, die sie Conrad von sich geschickt hatte – in hochgeschlossener weißer Bluse mit einer kleinen schwarzen Brosche am Kragen, die Haare zu einem ordentlichen Knoten aufgesteckt.
Neben ihrem Bild lag eine dicke Mappe, die mit einem großen Stein beschwert war. Sie nahm den Stein herunter und öffnete den Deckel. Ein paar Schreibhefte waren darin, alle ordentlich beschriftet und durchnummeriert. Isabel blätterte ein paar Seiten auf. Sie waren leicht gewellt von der feuchten Luft und eng beschrieben in Conrads akkurater Handschrift, die sie so gut kannte. Es handelte sich um Übersetzungen kurzer Texte wie Gebete oder Bibelsprüche in die Eingeborenensprache Jabim, die hier gesprochen wurde, sowie Wörterlisten, Notizen und Sprachbeobachtungen. Mit einem Kloß im Hals strich sie über eine der langen Listen, dann klappte sie das Heft zu und verstaute alles wieder in der Mappe.
Auf dem Schreibtisch wie überall auf den Möbeln lag feiner, pudriger Staub. Hier war offenbar schon länger nicht mehr geputzt worden. Gleich morgen, beschloss Isabel, würde sich das ändern. Aber nicht heute. Auf einmal fühlte sie sich
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